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Die bayerische Kurfürstin Maria Anna am Cembalo zwischen zwei Wittelbacher Geschwistern: Kurfürst Max III. Joseph an der Gambe und Kurprinzessin Maria Antonia Walpurgis von Sachsen als Sängerin (Gemälde in der Münchner Residenz).

Advent in München 23.12.1775

Am 23. Dezember 1775 kam die bayerische Kurfürstin Maria Anna erschöpft aus einem langen Adventsgottesdienst in der Theatinerkirche und dachte an die Oper. 

Maria Anna, Kurfürstin von Bayern und Kostümbildnerin

von Karl Böhmer

Anno 1775 feierte man den vierten Advent erst am 24. Dezember, was die Theatiner in München offenbar zu besonders ausladenden Gottesdiensten animierte. Am Samstag, 23. Dezember, ließ Kurfürstin Maria Anna von Bayern ihre Schwägerin in Dresden wissen:

Wenn ich Euch nicht so ausführlich schreibe, wie ich es wünschte, beschwert Euch bei den Theatinern, welche die Kirche länger dauern ließen als gewöhnlich.

Die aus Dresden stammende Kurfürstin war keine Freundin allzu ausgiebiger Frömmigkeitsübungen. Deshalb kam sie im selben Brief sehr rasch auf die Proben zur bevorstehenden Karnevalsoper zu sprechen. Maria Anna war darüber stets bestens unterrichtet, schon allein deshalb, weil ihr Appartement in der Münchner Residenz nur wenige Meter vom Theater entfernt lag. Damals befand sich das Cuvilliés-Theater noch an der Stelle des heutigen Neuen Residenztheaters. Aus den „Kurfürstenzimmern“ Maria Annas genügten wenige Schritte durch den Schwarzen Saal und das angrenzende Treppenhaus, und schon war man im Theater. Dessen damals großzügige Nebenräume enthielten auch die Schneiderei, wo die begeisterte Näherin Maria Anna in fast jedem Advent zu sehen war. Denn der Münchner Opernintendant Graf Seeau übertrug ihr häufig die Aufgabe, für die Hauptsänger Kostüme zu entwerfen. Die Kurfürstin von Bayern war zugleich die Kostümbildnerin der Hofoper!

Natürlich war sie an den Sängern der neuen Oper nicht nur wegen ihrer Größe, Taille oder Armlänge interessiert, sondern auch und vor allem wegen ihrer Stimmen. Maria Anna war eine vorzügliche Cembalistin und Kennerin der Musik, sie hatte einen komponierenden Kurfürsten geheiratet, dessen Schwester ebenfalls komponierte – jene Kurfürstinwitwe Maria Antonia Walpurgis von Sachsen, an die sich die hier zitierten Briefe richten. Sie befinden sich im Hauptstaatsarchiv Dresden und sind im Original auf Französisch verfasst. Aus dieser musikalisch reichen Korrespondenz sollen im Folgenden einige bislang noch nicht publizierte Briefe aus den Adventszeiten 1775 und 1776 zitiert werden, weil sie ein Licht auf zwei „Superstars“ der damaligen Opera seria werfen: auf den böhmischen Komponisten Josef Myslivecek und den Kastraten Luigi Marchesi.

Opernkrise im Advent

Dass man für die Münchner Karnevalsoper des Jahres 1776 den berühmten „Boemo“ Josef Myslivecek aus Italien engagiert hatte, war nicht verwunderlich. Nach triumphalen Erfolgen in Neapel, Mailand, Florenz und Venedig galt er Mitte der 1770er Jahre als der bedeutendste Maestro der Opera seria. Doch sein Münchner Engagement wurde im ersten Anlauf 1775/76 durch eine schwere Krankheit verhindert, die ihn in Florenz ans Bett fesselte. Deshalb musste sehr kurzfristig der junge Oberpfälzer Joseph Michl für ihn einspringen und im Lauf von nur drei Wochen die Oper Il trionfo di Clelia komponieren. Am 13.12., dem Freitag vor dem zweiten Advent, glaubte Kurfürstin Maria Anna noch fest daran, dass Myslivecek wie versprochen aus Italien anreisen werde:

Wir erwarten hier Stunde um Stunde den Maestro.

Erst kurz danach muss die Absage eingetroffen sein – nur vier Wochen vor der geplanten Uraufführung der Oper! Im nächsten Brief vom 20.12. heißt es:

Ihr werdet schon wissen, dass Michl die Oper komponieren wird, da der Maestro in Florenz erkrankt ist und nicht zu kommen vermag.

Dass der große Böhme die Münchner nicht nur hinhielt, sondern tatsächlich den ersten Schub einer schweren Krankheit erlitt, wird durch die Zeitung Gazzetta di Toscana bestätigt, die noch im März 1776 von seiner „anhaltenden gesundheitlichen Indisposition“ berichtete.

Luigi Marchesi und eine „prima demonia“

Nicht nur Mysliveceks Absage, sondern auch die Eitelkeit zweier neu eingetroffener Sänger stürzte die Münchner im Advent 1775 in eine regelrechte Opernkrise. Es waren die Primadonna Angela Galliani und der Kastrat Luigi Marchesi, mit denen es im Folgejahr noch Myslivecek zu tun bekam. Kaum in München angekommen, erwies sich die Galliani als Tyrannin erster Ordnung. Am 23.12. kommentierte Maria Anna die Proben zur neuen Oper mit folgenden bitteren Sätzen:

Gegenwärtig spricht man hier von nichts anderem als der Oper, von der bereits zwei Proben bei Seeau stattgefunden haben. Michl wird sie komponieren, und man sagt, der erste Akt sei sehr schön. Nur die prima demonia oder donna bringt alle Welt gegen sich auf, und ich glaube, dass Seeau bald sterben wird, weil er Angst vor ihr hat.

Eine Primadonna, die den Intendanten zur Verzweiflung treibt, war für die Münchner etwas durchaus Neues. Frühere Damen des Fachs wie Regina Mingotti oder Caterina Flavis standen mit der Kurfürstin auf so gutem Fuß, dass sie nie und nimmer die „prima demonia“ gegeben hätten, die „erste Dämonin“. Erschwerend kam hinzu, dass auch der neue „Primo uomo“, der erste Kastrat, vor Eitelkeit nur so strotzte. Es war der junge Luigi Marchesi, nachmals der berühmteste und höchstbezahlte Kastrat Europas und schon anno 1775 stolzgeschwellt, „assai superbo“, wie Maria Anna am 13.12. ihrer Schwägerin schrieb:

Der neue Sänger ist gut, erscheint mir aber assai superbo, besonders gegenüber seinen Kameraden, doch sehr gut con la Sua Eccellenza e la Sua Dulcinea. Ihr könnt Euch gut vorstellen, wie ihn das auf den Gipfel bringen wird. 

Während Marchesi seine Kastratenkollegen Tomaso Consoli und Sebastiano Emiliani von oben herab behandelte, hatte er sich sofort bei den Hauptintriganten des Hofes eingeschmeichelt, von der Kurfürstin nur „Seine Exzellenz“ und „Dulcinea“ genannt. Damit säte er im Ensemble so viel Zwietracht wie noch nie. Wohlweislich hütete sich Maria Anna, für die neue Oper die Kostüme zu entwerfen. Sie ging bewusst auf Distanz, wie sie ihrem Bruder Franz Xaver in Frankreich am 5.1.1776 berichtete:

Morgen werden wir die Generalprobe der Oper haben, von der ich mir, um ehrlich zu sein, nicht viel erwarte, primo, weil der Maestro, der sie hätte schreiben sollen, nicht gekommen ist, und nur ein junger Mann von hier sie komponiert hat, und secondo, weil eine schreckliche Eifersucht in der ganzen Truppe herrscht. Gott sei Dank habe ich mich entschieden, zu keiner Probe zu gehen, so kann man wenigstens nicht sagen, ich hätte mich eingemischt.

Am Ende konnten der große Marchesi und seine Kolleg(inn)en die Münchner doch überzeugen, so dass Il trionfo di Clelia von Michl kein Fiasko wurde. In ihrem Uraufführungsbericht vom 9.1. an Franz Xaver war die Kurfürstin voll des Lobs für die Sänger, wenn auch reserviert gegenüber dem jungen Komponisten:

Über die Oper behalte ich mir das Urteil noch vor, bis ich sie mehrmals gehört habe. Die Stimmen sind schön und alle singen sehr gut, das Schauspiel schön, alle spielen gut, die Kostüme schön, die Ballette, besonders das erste, sehr hübsch. Von der Musik könnte ich nicht das Gleiche sagen: Es gibt hier und da ein paar schöne Stücke, aber ich muss zugeben, dass mir das Ganze nicht gefällt. Es könnte sein, dass ich nach mehrmaligem Hören mehr Gefallen daran finde.

Man sieht: Die Musik des jungen Michl konnte Maria Anna nicht begeistern, wohl aber Marchesis Gesang. Seine kraftvolle Stimme von a bis d''' und seine schier unglaublichen Koloraturen triumphierten im Januar über allen Unbill des Dezembers, so dass auf eine anstrengende Adventszeit ein glücklicher Fasching folgte.

Myslivecek in München

Derweil kurierte Josef Myslivecek in Florenz seine Krankheit aus. Dahinter verbarg sich offenbar eine Syphilis-Infektion, die in Schüben verlief und später in München ihren Höhepunkt erreichen sollte. Vorerst aber war sein Zustand stabil und er konnte im Herbst 1776 nach Bayern reisen, um für den Münchner Fasching 1777 seinen Ezio zu komponieren. Erst danach streckte ihn seine Krankheit noch einmal so heftig nieder, dass er im Clemenshospital der bayerischen Hauptstadt Monate lang vor sich hinvegetierte. Im Herbst 1777 besuchte ihn dort sein alter Freund Mozart, dem wir die eindringlichste Schilderung der Krankheit verdanken, vor allem der entstellenden Operation, mit der unfähige Chirurgen den berühmten Komponisten buchstäblich brandmarkten. Wer den 2022 gedrehten Kinofilm Il Boemo gesehen hat, wird das verbrannte Gesicht des Maestro und seine Gesichtsmaske in aller Drastik vor Augen haben. Mit den hier zitierten Briefen bewegen wir uns allerdings noch vor diesen dramatischen Ereignissen.

Myslivecek komponierte in aller Ruhe seinen Münchner Ezio mit einer besonders ausdrucksvollen Szene für die „prima demonia“ Galliani und atemberaubenden Bravourarien für Luigi Marchesi. Dennoch war ihm mit diesem Werk kein durchschlagender Erfolg beschieden. Maria Anna berichtete ihrer Schwägerin an Silvester 1776 nur ganz knapp über die erste Hauptprobe des Ezio, die sie wegen einer Unpässlichkeit versäumt hatte:

Man hat mir gesagt, dass außer dem Quartetto und einer Arie von Panzacchi der Rest keine große Sache ist.

Das große Es-Dur-Quartett am Ende des zweiten Aktes und die Bravourarie des Tenors Domenico de‘ Panzacchi mit Solo-Fagott waren die Glanznummern der Oper, die ansonsten auch von Kurfürst Maximilian III. Joseph überaus kritisch beurteilt wurde. Umso mehr gefiel Mysliveceks Florentiner Oratorium Isacco figura del Redentore, das er in der Fastenzeit 1777 in einer teilweisen Neufassung für München herausbrachte. Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Trier, der jüngste Bruder der bayerischen Kurfürstin, hörte es am 7. März und schrieb darüber zwei Tage später an seine Schwägerin in Dresden:

Das Oratorium Isacco, das wir vorgestern in München gehört haben, hat mir sehr viel Vergnügen bereitet, da es sehr bewegend ist und als Gegenstand für eine sehr schöne Meditation dienen könnte. Die Musik dazu ist auch sehr [schön].

Verzweifelte Arien und zwei Todesfälle

Die Arie der verzweifelten Sarah, die ihren Sohn Isaak sucht und schon ahnt, dass er geopfert werden soll, ist die eindrucksvollste Szene aus Msyliveceks Isacco-Oratorium. Zusammen mit der Ouvertüre zum Münchner Ezio steht sie in unseren Hörbeispielen stellvertretend für den tragischen Aufenthalt des großen Böhmen in Bayern. Außerdem folgt hier eine Szene aus dem Kinofilm Il Boemo, in der die Sopranistin Raffaela Milanesi den Kastraten Luigi Marchesi darstellt, wie er in Mysliveceks Oper Olimpiade Begeisterungsstürme auslöst. Nach ihrer gemeinsamen Zeit in München begründeten der aufstrebende Kastrat aus Mailand und der von Krankheit gezeichnete Maestro eine künstlerische Partnerschaft, die vier besonders schöne Opern aus Mysliveceks letzten Lebensjahren hervorbrachte: Calliroe und Olimpiade für Neapel (1778), La Circe für Venedig (1779) und Armida für Mailand (1780). Am 4. Februar 1781, als Marchesi in Neapel schon seinen nächsten Lieblingskomponisten namens Francesco Bianchi präsentierte, ist Josef Myslivecek in Rom krank und verarmt gestorben. Auch Kurfürstin Maria Anna in München hat sich nicht mehr an ihn erinnert, hatte sie doch Ende Dezember 1777 selbst ihren Mann verloren. Während Myslivecek in München seine schwere Krankheit auskurierte, starb Kurfürst Max III. Joseph innerhalb von nur drei Wochen elendiglich an den Pocken, ruiniert von der Ignoranz seiner Ärzte. Die Adventszeiten der Jahre 1775 und 1776 waren für Kurfürstin Maria Anna die letzten ungetrübten ihres Lebens.

Zum Hören:

Josef Myslivecek: Ouvertüre zur Oper Ezio (München, Karneval 1777)
Collegium 1704, Václav Luks
https://www.youtube.com/watch?v=b6dl1oeri4s

Josef Myslivecek: Szene und Arie der Sara aus Isacco ed Abramo (München, Fastenzeit 1777)
Magdalena Kožená, Prague Philharmonia, Michel Swierczewski
https://www.youtube.com/watch?v=yUwy2aLMOVg

Raffaela Milanesi als Luigi Marchesi im Kinofilm Il Boemo in Szene und Arie
„Se cerca, se dice“ aus der Oper Olimpiade (Neapel 1778)
https://www.youtube.com/watch?v=q8tmTkqhGg4