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Prag in der Wintersonne. Die Witterung am 1.12.1895: Meist heiter, trocken, starker Frost, rauer Wind.

Adventskalender Prag 1.12.1895

Unsere Adventsgeschichte zum 1. Dezember: Antonín Dvořák liest seinen Kindern ein Märchen vor und hat plötzlich die Idee, es zu vertonen. 

Advent mit böhmischen Märchen, Prag, 1.12.1895

Endlich wieder zuhause! Antonín Dvořák konnte es kaum fassen. Das Abenteuer New York lag hinter ihm und er konnte wieder die Gerüche und Geräusche seines geliebten Prag einsaugen, in vollen Zügen. Im November hatte er wieder seinen Unterricht am Prager Konservatorium aufgenommen. Am ersten Advent ging er mit seiner großen Familie in die Heilige Messe und freute sich über die erste brennende Kerze am Adventskranz. Ein strahlender Tag in Prag. Alles schien in Ordnung. Wirklich alles? Als er an jenem 1. Dezember 1895 das Prager Tagblatt aufschlug, verging ihm die Festtagsfreude. Da wurde in übelster Weise gegen Anhänger der christlich-sozialen Partei gehetzt, die sich öffentlich gegen den Antisemitismus aussprachen, wie er damals massiv von Wien nach Tschechien übergriff. Weil die Warnsberger Volkszeitung über „die Verwerflichkeit des Rassenantisemitismus vom christlichen Standpunkte aus“ geschrieben hatte, wurde sie übelst beschimpft. Vokabeln wie „die Judenstämmlinge“ ließen eine noch viel brutalere Rhetorik schon erahnen. Wehmütig dachte Dvořák an die Atmosphäre im New Yorker Konservatorium zurück, als er mit seinen schwarzen und weißen Studenten ohne jeden Abstand nur an der Musik gearbeitet hatte. Welcher von ihnen jüdisch war, spielte nur dann eine Rolle, wenn sie am Sabbat nicht musizieren durften.

Märchen lesen

Bei so viel politischem Unrat half nur eines: Märchen lesen. Während seine Frau Anna die geliebten tschechischen Speisen zubereitete, die er in New York so schmerzlich vermisst hatte, wollten seine Kinder unbedingt ein Märchen von ihm hören. „Wie wäre es mit dem goldenen Spinnrad, Kinder?“ „Aber Vater, das ist zu grausam.“ „Alle böhmischen Märchen sind schrecklich und grausam. Aber am Ende siegt immer das Gute. Und das wollen wir auch für unser Prag hoffen, Kinder. Hier gibt es so viel Unfrieden wie im Märchen. Aber am Ende sitzt die schöne Dornička doch wieder an ihrem Spinnrad und spinnt Gold für ihren Mann, den König.“ Also setzte sich der große Komponist ans Spinnrad der schönen Geschichten und schlug das berühmteste böhmische Märchenbuch auf: den Blumenstrauß aus Volkssagen von Karel Jaromír Erben. Der 1870 verstorbene Dichter, Archivar und Volksliedforscher war den Tschechen, was für die Deutschen die Gebrüder Grimm sind: Er hatte die Volksmärchen des Landes gesammelt und in Form von Versdichtungen zum Druck befördert – ein nationales Kulturgut des kleinen Landes im Herzen von Europa.

Das goldene Spinnrad

Dvořáks Kinder lauschten gespannt, obwohl sie die Geschichte alle schon kannten. Dvořák hat das lange Märchen später in Prosa zusammenfassen lassen, im Vorwort zu seinem gleichnamigen Orchesterwerk. Auch die Dirigentinnen und Dirigenten, Orchester und Publikum sollen wissen, welche Geschichte hier in Tönen erzählt wird:

„Am Waldessaume, auf stolzem Rosse, reitet der König. Müde und durstig von der Jagd kommt er zu einer einsamen Hütte und klopft an. Ein holdes Mägdlein öffnet ihm und reicht ihm den Labetrunk. Dann setzt sie sittsam sich ans Spinnrad. Der König, bezaubert von ihrer Schönheit, entbrennt alsbald in Liebe und begehrt sie zum Weibe. Sie aber weist ihn an ihre Stiefmutter, die am nächsten Tage aus der Stadt zurückkehren soll.

Am nächsten Morgen sprengt der König wieder zur Hütte. Auf sein Klopfen tritt eine hässliche Alte heraus. Er verlangt von ihr die Hand der Stieftochter, sie aber versucht ihn zu bereden, ihre eigene Tochter zum Weibe zu nehmen, die der Stieftochter auf’s Haar gleicht. Er aber besteht auf seinem Verlangen und befiehlt ihr, die Stieftochter am nächsten Morgen ins Schloss zu bringen.

Da reift in der Alten über Nacht ein tückischer Plan: Im Bunde mit der eigenen Tochter lockt sie, unter gleißenden Reden, das arglose Stiefkind bei Tagesgrauen in den Wald. Dort hauen sie ihrem Opfer Hände und Füße ab und stechen der Ärmsten die schönen Augen aus. Den Leichnam lassen sie liegen, nur Augen, Hände und Füße nehmen sie heimlich mit ins Schloss, wo nun der König mit dem vermeintlichen Lieb Hochzeit hält. Sieben Tage dauert das Fest. Am achten Tag nimmt der König Abschied von seiner jungen Frau und zieht in den Kampf, indem er ihr aufträgt, während seiner Abwesenheit fleißig zu spinnen.

Unterdessen findet ein wundertätiger Greis, ein mächtiger Zauberer, den verstümmelten Leichnam im Walde und sendet alsbald einen Knaben mit einem goldenen Spinnrad in die Burg. Der Knabe hat den Auftrag, das Spinnrad nur ‚für zwei Füße’ zu verkaufen. Die junge Königin, die das Wunderwerk um jeden Preis besitzen will, beauftragt ihre Mutter, nach dem Preise zu fragen. Eilends bringt der Knabe dieselben dem Greise. In gleicher Weise gelangt der Greis, indem er den Knaben noch zweimal, und zwar mit der goldenen Spindel und der goldenen Kunkel, in’s Schloss schickt, in den Besitz der Hände und Augen des ermordeten Mägdleins. Sodann, mithilfe des ‚Lebenswassers’, fügt er die fehlenden Glieder dem Leichnam der Ermordeten wieder an. Nachdem er sie zu neuem Leben erweckt hat, verschwindet er.

Nach drei Wochen kehrt der König, siegreich, aus dem Kampfe zurück. Die Königin zeigt ihm das erworbene Spinnrad. Kaum aber beginnt sie zu spinnen, so verrät das Wunderrad schnurrend die grause Tat. Erbleichend will sie die verräterische Spindel zur Ruhe bringen; doch der König lässt nicht ab, bis er alles erfahren hat. Eilends sprengt er in den Wald und findet nach langem Suchen die Totgeglaubte. In fröhlicher Hochzeit werden die Beiden für ewig verbunden."

Sinfonische Dichtung

Dvořák las und las, doch plötzlich kam ihm ein Thema in den Sinn: erst eine Solovioline und ein Englischhorn, dann ein paar Klarinetten, schließlich ein Streichergesang so schön wie nur tschechische junge Frauen sein konnten, zum Schluss wieder die Solovioline. Und auch das Hörnerthema zum Ausritt des Königs fiel ihm plötzlich ein. Er hörte auf zu Lesen. „Kinder, einen Stift bitte!“ „Aber Vater, lies weiter!“ Der Sohn Otakar wusste schon, was nun passierte: Er holte schnell Bleistift und Papier. „Auf dem Tisch ist kein Platz, Vater. Nimm doch wieder die Hemdenmanschetten, wie in Amerika am Fluss, wenn Dir plötzlich was eingefallen ist. Da mussten auch immer die Manschetten als Notenpapier herhalten.“

In Windeseile notierte Dvořák die beiden Themen auf seine Hemdenmanschetten und zog vorsorglich die Ärmel seiner Jacke darüber, damit seine Frau nichts bemerkte. Zu spät: Just in diesem Augenblick kam sie mit dem Essen herein und warf einen vorwurfsvollen Blick auf ihren Mann: „Antonín, was nestelst Du schon wieder am Hemd herum! Du wirst doch nichts komponiert haben ... Platz da Kinder, hier kommen die Knödel!“ Große Begeisterung. Es war ein köstliches Adventsmahl. „Aber Vater, nachher liest Du das Märchen zu Ende, bitte!“

Es war nur eine schwache Hoffnung, denn nach dem Essen zog sich Dvořák in sein Arbeitszimmer zurück und begann ein neues Werk: die sinfonische Dichtung Das goldene Spinnrad. Es sollte das erste seiner vier Orchesterwerke über Erbens Märchen werden. An einen Freund in London schrieb er später: „Alle meine Tongedichte sind nach Erben geschrieben, und ich bin einfach nur entzückt darüber. Denn da diese Gedichte unsere nationalen Gefühle zum Ausdruck bringen, wagte ich, sie unverändert zu vertonen. Wir alle preisen die nationale Form, die uns so gut ansteht, wie die Leute sagen. Lachen Sie nicht!“ Die „nationale Form“ hatte für ihn nichts mit Nationalismus oder gar Rassismus zu tun. Denn in Erbens Märchen siegte am Ende immer das Gute.

Zum Hören:

Tomas Netopil dirigiert ein ungenanntes italienisches Sinfonieorchester in Antonín Dvořáks sinfonischer Dichtung: Das goldene Spinnrad, op. 109

https://www.youtube.com/watch?v=HzQejxJqW6w