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„Und überschneiet uns mit Lust …“: Das Köthener Schloss im Schnee, fotografiert von Henner Fritzsche.

Adventskalender Köthen 10.12.1720

Vor 303 Jahren führte Bach im Köthener Schloss eine pastorale Festkantate für seinen Fürsten auf: ein Schäfergespräch mitten im Winter. Fragmente davon haben sich möglicherweise in späteren Werken erhalten. Eine Rekonstruktion von Karl Böhmer.

Schneeflocken in Köthen, 10.12.1720

Dichtes Weiß bedeckte die Anhaltischen Lande. Es hatte stark geschneit in und um Köthen, die kleine hochfürstliche Residenz zwischen Magdeburg und Halle. Schnee bedeckte die niedrigen Dächer der Häuser und die hohen Giebel des Schlosses, ja auch das Gartenparadies, auf das der Fürst so stolz war. Es schien, als wolle ihm der Himmel zum Geburtstag gratulieren.

Die Tücken des Kalenders

Zwar war Leopold von Anhalt-Köthen anno 1694 am 29. November zur Welt gekommen, doch hatten die protestantischen Reichsstände anno 1700 die zehn Tage zwischen 19. Februar und 1. März gestrichen, um endlich zum gregorianischen Kalender der Katholiken aufzuschließen. Folglich vollendete der kleine Leopold in jenem Jahr erst am 10. Dezember sein sechstes Lebensjahr und hatte damit einen neuen Geburtstag – ganz so wie sein späterer Hofkapellmeister Johann Sebastian Bach. Am 21. März 1685 in Eisenach geboren, wurde Bach 1700 erst am 1. April 15 Jahre alt, was folglich auch in jedem folgenden Lebensjahr der Fall war. Anno 1720 fiel der fürstliche Geburtstag auf den Dienstag nach dem zweiten Advent, und wie in jedem Jahr versammelte man sich in Köthen zur Hofgala. Dass diese üppigen Festlichkeiten mit dem Tempus clausum kollidierten, der adventlichen Buß- und Fastenzeit, scherte den Fürsten wenig. Selbst das Kirchenjahr hatte sich vor der Würde des Herrschers zu beugen, so klein auch seine Lande sein mochten. Pünktlich fanden sich an jenem Dezembermorgen die höfischen Würdenträger im Festsaal des Köthener Schlosses zum Handkuss ein.

Hofgalatag mit Serenata

Darunter war auch der hochfürstliche Kapellmeister Johann Sebastian Bach. Schon zum dritten Mal seit 1718 wohnte er dem Geburtstagszeremoniell bei, doch jedes Mal stand er unter einer besonderen Spannung. Eben noch hatte er mit der jungen Sopranistin Monjou eine Arie aus seinem neuesten Werk geprobt, denn bevor sich am Abend der Saal mit den prächtigen Gedecken der Festtafel füllte, stand am Nachmittag die wichtigste musikalische Aufführung des ganzen Jahres an: die Serenata zum Geburtstag des Fürsten. Dafür wechselten Leopold und seine erlauchten Gäste vom Schloss hinüber in den langgestreckten Bau der alten Orangerie, wo sich das fürstliche Theater befand. Wo für gewöhnlich deutsche oder französische Schauspieltruppen gastierten, durfte der Hofkapellmeister einmal im Jahr den Glanz der Oper heraufbeschwören: in seiner Serenata. Obwohl man derlei höfische Glückwunschkantaten für gewöhnlich nicht szenisch aufführte, traten die Sänger doch in festlicher Kleidung vor Kulissen auf. Im Dezember 1720 lohnte sich dieser Aufwand ganz besonders.

Schäfergespräch im Winter

Schäffer-Gespräch stand über dem Text zu lesen, den der weithin berühmte Dichter Menantes alias Hunold eigens zu dem Anlass verfasst hatte. Die gedruckten Libretti wurden unter den Anwesenden verteilt, kurz bevor die Schäferinnen Sylvia und Phyllis die Bühne betraten. Die beiden Singejungfern Monjou, seit Oktober in Köthenschen Diensten, durften sich im antikischen Kostüm von Schäferinnen zeigen, was dem Auge des noch unverheirateten Fürsten ein besonderes Plaisir bereitete. Dazu trat ein Tenor in der Gestalt des Schäfers Thyrsis auf, und die Kulissen hüllten die Szene in pastoralen Zauber, passend zu den ersten Versen des Menantes:

Sylvia: Heut ist gewiß ein guter Tag: / Mir ist so wohl, ich weiß mich nicht zu lassen, / Ich kann mich kaum vor Freuden fassen, / Die ich nicht nennen mag.

Phillis: Auch meine Lust ist ungemein, / Der heut'ge Tag muß recht glückseelig seyn.

Sylvia: So bin ich nicht im frohen May gewesen.

Phillis: Und in der grünen Felder-Pracht, / Die alle Sinnen freudig macht, / Hab' ich die Blumen nie gelesen / Mit so vollkommner Lust, / Die jetzt in meiner Brust, / Da doch der Schnee die Hütten deckt.

Das Paradox eines Schäfergesprächs im Winter wurde vom Textdichter in geschickter Weise aufgegriffen. Den frühen Schnee in anhaltischen Auen verarbeiteten Menantes und Bach zu einer besonders poetischen Arie der Sylvia:

Der Himmel lachet mit Vergnügen, / Und überschneyet uns mit Lust. / So viel von oben Flocken Fallen, / So viel soll Daphnis Ruhm erschallen, / So vieles Wohl beglücke seine Brust.

„Daphnis“ war kein Anderer als Fürst Leopold. Zu seinem Ruhm mussten natürlich Hirtenflöten erschallen, und das leise Rieseln der Schneeflocken ließ sich Bach in der betreffenden Arie sicher nicht entgehen. Da seine Partitur zum Schäffer-Gespräch von 1720 verloren ging, muss man in seinen Leipziger Kantaten nach einer geistlichen Fassung der betreffenden Arie suchen. Sie findet sich möglicherweise in seiner ersten Festkantate zur Wahl des Leipziger Stadtrats von 1723:

Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, / Ja selber Gottes Ebenbild. / Wer ihre Macht nicht will ermessen, / Der muss auch Gottes gar vergessen: / Wie würde sonst sein Wort erfüllt?

Dass Bach zu diesem politischen „Statement“ eine so wunderbar „flockige“ Musik eingefallen sein soll wie die betreffende Altarie mit Flötenbegleitung in BWV 119, leuchtet nicht ein. Zudem ist Bachs Partitur eine makellose Reinschrift. Er hatte also eine frühere Fassung der Arie vor sich, die er im August 1723 nur ins Reine schreiben und mit einem neuen Text versehen musste. Es liegt nahe, bei der Vorlage an eine weltliche Arie aus Köthen zu denken, wie er sie in seinem ersten Leipziger Kantatenjahrgang so häufig benutzt hat. Die Besetzung dieses schönen d-Moll-Menuetts deutet auf Schäfermusik hin: Alto solo con due Fiauti all’unisono. Könnte es sich dabei um die Arie der Sylvia aus dem Schäffer-Gespräch vom Dezember 1720 handeln? Und klingt das Staccato der Flöten in dieser Arie nicht nach leise rieselndem Schnee?

Rekonstruierte Serenaden

Bachs verlorene Köthener Serenaden zu rekonstruieren, ist ein ganz eigenes Vergnügen, weil auf diese Weise hinter dem strengen Leipziger Thomaskantor unversehens der Kapellmeister Bach zum Vorschein kommt – der lächelnde Höfling, der seine weltlichen Kantaten stets mit besonderer Lust „überschneit“ hat. Man kann dabei trefflich ins Spekulieren kommen, etwa über das Orchestervorspiel zu besagtem Schäffer-Gespräch. Könnte es sich dabei um den ersten Satz des späteren „Brandenburgischen Konzerts“ Nr. 4 gehandelt haben? Die beiden Hirtenflöten und die Solovioline ergehen sich in diesem Satz in pastoralen Tönen, nicht weniger als das singende Schäfertrio in Bachs Serenata. Der Mittelteil des Konzertsatzes schlägt dagegen überraschend dramatische Töne an. Noch im Frühjahr hatte Fürst Leopold schwerkrank darnieder gelegen, man hatte um sein Leben fürchten müssen. Mittlerweile erfreute er sich wieder bester Gesundheit, ein Glückswechsel, den die beiden Schäferinnen in ihrem Dialog nicht unerwähnt ließen:

Sylvia: Als noch im Frühlings-Schein / Den grossen Daphnis was befallen. / Man hörte nichts, als Klagen, Schmertz und Pein / Durch Wald und Felder schallen.

Phillis: Man hing die Flöthen hin. / Man saß mit recht betrübten Sinn. / Auch in den allerschönsten Auen / War schon nichts schönes mehr zu schauen, / Da Daphnis Leben in Gefahr.

Im Dezember 1720 wurden die Flöten wieder vom Haken genommen und munter zum Klingen gebracht, zum Lob des genesenen Daphnis alias Leopold. Seine wiederhergestellte Gesundheit bekundete er alsbald wieder in exzessivem Jagdvergnügen: „Jagen ist ein groß Ergetzen / Und des Edlen Daphnis Lust.“ So heißt es in der Arie der Phillis, deren Musik sich vielleicht in BWV 42 oder 175 erhalten hat. Es ist ein besonderer Unglücksfall, dass Bachs Musik zu diesem so bilderreichen Text verloren ging. Vielleicht sollte man in seinen geistlichen Kantaten noch ein wenig weitersuchen nach den Spuren jener verschollenen Pastorale vom Advent 1720.

Zum Hören:

Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 4 G-Dur, BWV 1049, erster Satz mit Dorothee Oberlinger, dem jungen Koblenzer Geiger Jonas Tschenderlein und dem Ensemble „Bachs Erben“ (möglicherweise als Sinfonia zum Schäffer-Gespräch von 1720 komponiert):

https://www.youtube.com/watch?v=K0epKZVSwac

Johann Sebastian Bach: „Die Obrigkeit ist Gottes Gabe“ aus BWV 119, vielleicht ursprünglich eine Arie aus dem Schäffer-Gespräch von 1720, mit Andreas Scholl, Dorothee Oberlinger und Ensemble:

https://www.youtube.com/watch?v=R7iuzWf00w8