Adventskalender London 13.12.1739
Im London des Rokoko mussten Adventskonzerte nicht geistlich sein, zumal wenn sie im Theater stattfanden. Dies wusste Georg Friedrich Händel, als er sein Adventskonzert für 1739 zusammenstellte: mit antiken Hirten und Heiliger Cäcilie.
Adventskonzert in London, 13.12.1739
Am Morgen des 13. Dezember 1739 konnten die Londoner in der Daily Post folgende Anzeige lesen: „Im Königlichen Theater zu Lincoln’s Inn Fields wird heute Acis and Galathea aufgeführt, eine Serenata, mit zwei neuen, noch nie gespielten Concerti, wozu noch die neue Ode von Mr. Dryden und ein Orgelkonzert kommen.“ Es war eine üppige Mischung, die Händel seinem Publikum als zweites Konzert seiner neuen Spielzeit präsentierte: ein Adventskonzert aus einer geistlichen Ode, einer weltlichen Pastorale und drei Instrumentalkonzerten.
Acis and Galatea im Advent
Als Hauptstück wählte er seine alte, 1718 komponierte Pastoraloper Acis and Galatea, nach wie vor ein Lieblingsstück der Londoner. Denn hier verbanden sich die Worte ihrer geliebten Muttersprache mit Händels nie versiegendem Melodienreichtum im rein italienischen Stil und mit Chören. Dass der Stoff aus der klassischen Mythologie stammte und keinerlei Anspruch auf Frömmigkeit erhob, störte das Publikum wenig. Es wäre den vornehmen Londonern nie eingefallen, im Advent ins Konzert zu gehen, um sich auf Weihnachten einstimmen zu lassen. Dazu ging man in den Gottesdienst. Im Theater wollte man unterhalten werden, und da die Aussicht auf italienische Opern in jenem Winter düster war, kam ihnen Händels englische Pastoraloper gerade recht. Der Erfolg war entsprechend: „Es war wie früher in den Opern: gestopft voll.“ So ließ die Besucherin Katherine Knatchbull den Händelfreund James Harris gleich nach dem ersten Abend der neuen Saison wissen.
Cäcilienode als Lückenfüller
Da die Londoner für ihr Eintrittsgeld bekanntermaßen viel Musik hören wollten, wären sie mit einem zweiteiligen Stück von 90 Minuten Länge wie dem Acis nicht zufrieden gewesen. Praktischerweise hatte Händel für das Eröffnungskonzert der Spielzeit am 22. November eine Ode zum Cäcilientag geschrieben: Ode on St. Cecilia’s Day auf das berühmte Gedicht von John Dryden. Dieses fünfzigminütige, rein betrachtende Kantate über die Macht der Musik und ihre Schutzheilige eignete sich bestens dafür, zweiteilige Oratorien auf die üblichen drei Teile auszudehnen. Am 22. November hatte Händel diese Wirkung im Zusammenhang mit Alexander’s Feast ausprobiert, seinem „Alexanderfest“, ebenfalls auf einen Text von Dryden. Am 13. Dezember kombinierte er die Cäcilienode mit Acis and Galatea. Inhaltlich gab es keine Berührungspunkte zwischen den beiden Stücken. Es ging nur darum, ein Vokalwerk in drei Akten aufzuführen, das nicht kürzer war als eine italienische Oper.
Concerti als Zwischenakte
Wo es drei Akte gab, mussten auch Zwischenakte hinein, und wo Händel an der Orgel saß, konnten dies nur Orgelkonzerte sein. Am 13. Dezember entzückte er die Londoner freilich nur mit einem seiner Konzerte für Orgel und Orchester. Als eigentliche Novitäten präsentierte er zwischen den Vokalwerken zwei seiner brandneuen „Grand Concertos“ für Streicher. Am 15. November hatte der Earl of Shaftesbury an James Harris geschrieben: „Händel bringt 12 Concertos auf Subskription heraus, offenbar ein gutes Werk.“ In der Tat: Es handelte sich um seine nachmals berühmten Concerti grossi Opus 6, die sein Verleger Walsh im Advent in Londons Zeitungen zur Vorbestellung anbot. Natürlich gehörten Harris, Shaftesbury und Knatchbull zu den ersten Subskribenten. Händels Fangemeinde in London war treu. Die anderen Zuhörer aber mussten erst überzeugt werden, ihr Geld für die teuren Noten auszugeben. Also war jene Uraufführung zweier Concerti nicht nur ein künstlerisches Ereignis, sondern zugleich eine Marketing-Maßnahme in eigener Sache.
Oratorien als Geschäftsmodell
Was Händel den Londonern an jenem Dezemberabend 1739 präsentierte, liest sich wie das Programm zu einer bunten Adventsgala ohne Weihnachtslieder. In Wahrheit war es eine Revolution des Londoner Theaterlebens. Konsequent nutzte er die momentane Schwäche der italienischen Oper aus, um die von ihm erfundene Idee einer Oratorienspielzeit in den Advent auszudehnen. In den Jahren zuvor hatte er das Geschäftsmodell Oratorium ausschließlich in der Fastenzeit erprobt und sich dabei eine Lücke im Londoner Theaterkalender zunutze gemacht. Die Freitage der Fastenzeit waren nämlich generell spielfrei: Jede Form von weltlichen Schau- oder Singspielen war verboten. Gegen Oratorien aber bestanden keine Einwände, schließlich handelte es sich um geistliche Dramen in konzertanter Form. An jenen Freitagen hatte Händel also keinerlei Konkurrenz zu fürchten, und er musste nicht einmal die Schauspieler ausbezahlen, die sonst auf einem Ausfallhonorar bestanden hätten, wenn sie wegen der Musik an einem Abend nicht hätten spielen können. Das Geschäftsmodell hatte sich also bewährt, zumal es die Engländer genossen, endlich die großen Solisten der Oper einmal in Englisch singen zu hören, dazu dramatische Chöre und das Ganze bevorzugt als geistliche Dramen aus dem Alten Testament. Auf diese Weise konnten sie den grausamen Intrigen der Atalia folgen, die den letzten Erben des Hauses Juda beseitigen will, um Königin zu bleiben; sie konnten die Heldentaten von Deborah und Barak bewundern und den tragischen Niedergang des Königs Saul tief bewegt verfolgen. Händels geniale Idee war zwar inspiriert von den römischen Oratorien, die er in seiner Jugend am Tiber gehört hatte. 30 Jahre aber später kamen drei entscheidende Faktoren hinzu: die englische Sprache, der wunderbare englische Chorgesang und die Atmosphäre der Theater, in denen man Oratorien ganz automatisch als geistliche Dramen auffasste.
Opern als Oratorien
Freilich: War es wirklich alles oratorisch, was Händel da seinem Publikum offerierte? Am 13. Dezember 1739 augenscheinlich nicht. Während er seine Oratorienspielzeit demonstrativ auf den Advent ausdehnte, kredenzte er den Londonern ebenso ostentativ eine englische Oper. In Acis and Galatea geht es nicht um die Helden des Volkes Israel, sondern um die antike Nymphe Galatea, die sich in den schönen Acis verliebt hat, doch unglücklicherweise auch vom monströsen Zyklopen Polyphem begehrt wird. Der bringt seinen Nebenbuhler aus Eifersucht kurzerhand um. Händel verstand es meisterhaft, diese grausame Sage aus den Metamorphosen des Ovid in eine Pastoralode auf das englische Landleben umzumünzen. Überaus gesittet besingt das Liebespaar mit seinen Freunden die Vergnügungen auf dem Lande: „Oh the pleasure of the plains“. Händel hat kaum einen besser gelaunten Chor geschrieben, denn er wusste genau: Je kälter der Winter, desto mehr sehnen sich die Menschen nach frischem Grün auf dem Lande. Im Dezember 1739 zeigte sich, dass der Winter sehr kalt sein würde. Händel ließ in den Zeitungen abdrucken, dass im Theater für Heizung gesorgt sei! So konnte auch das verliebte Monster Polyphem seine erste Arie wohlbeheizt singen: „Oh ruddier than the cherry“. Und die Londoner wurden im warmen Theater mit schönster Pastoralmusik an den Sommer erinnert.
Ein Bach hätte sich die Mühe gemacht, den weltlichen Text in einen geistlichen umzuwandeln. Aus seiner Pastoralkantate auf den sächsischen Kurprinzen formte er 1734 den vierten Teil seines Weihnachtsoratoriums, aus seiner Schäferkantate für den Herzog von Sachsen-Weißenfels 1725 sein Osteroratorium. Doch London war nicht Leipzig: In englischen Theatern hatte Händel derlei geistliche Parodien nicht nötig. Unter dem Deckmantel seiner „Oratorienspielzeit“ konnte er immer wieder englische Opern anbieten: Hercules, Semele, Alexander Balus. Die Londoner nahmen es mit Begeisterung auf, denn solange im Opernhaus die Italiener regierten, war englische Oper noch keine Option. Händel aber hatte sie längst in die Tat umgesetzt.
Eine süße Adventsmischung
Händels süße Adventsmischung vom 13. Dezember baute trotzdem gedankliche Brücken zum Weihnachtsfest: Das Fluidum der Pastorale, das Acis and Galatea verströmt, ließ die Zuhörer schon an die Hirten auf den Feldern von Bethlehem denken. Wenn die Heilige Cäcilie am Ende ihrer Ode in die Tasten der Orgel griff, bewies sie die Macht der Musik auf eine sehr fromme Weise. Und in der Mitte des g-Moll-Konzerts Opus 6 Nr. 6 konnten die Londoner eine fast schon weihnachtliche Pastorale hören.
Acis and Galatea, „Oh the pleasure of the plains“
Boston Early Music Festival 2009
https://www.youtube.com/watch?v=Y29-RdloANM
Acis and Galatea, „O ruddier than the cherry“ mit Rezitativ
Edward Grint (Bass), Irish Baroque
https://www.youtube.com/watch?v=K9SlEKZPZFw
Concerto grosso g-Moll, op. 6 Nr. 6
Manfredo Krämer und Riccardo Minasi, Soloviolinen
Le concert des Nations, Leitung: Jordi Savall
https://www.youtube.com/watch?v=htDf0bpFIys
Ode for Saint Cecilia’s Day
Les Arts Florissants, Leitung: Paul Agnew