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Der Petersplatz im Heiligen Jahr 1575: noch keine Bernini-Kolonnaden, vorne Alt-Sankt-Peter, hinten die unvollendete Kuppel von Michelangelo – der Arbeitsplatz von Palestrina von 1571 bis zu seinem Tod 1594.

Adventskalender Palestrina 15.12.1571

Palestrina bei Rom am 15.12.1571: Nur kurz kehrt der große Sohn in seine Heimatstadt zurück, um den Kauf eines Hauses zu regeln. Giovanni Pierluigi hat wenig Zeit am Samstag vor dem dritten Advent …

Weihnachtsvorbereitungen im Vatikan

von Karl Böhmer

Für Papst Pius V. Ghislieri sollte es seine letzte Weihnacht sein, für Giovanni Pierluigi die erste Weihnacht, die er wieder im Vatikan verbringen durfte. Der berühmteste Komponist Italiens, den die Römer damals schon nach seinem Geburtsort „Palestrina“ nannten, war am 1. April 1571 zur Cappella Giulia zurückgekehrt, dem Knabenchor des Petersdoms. Fünfzehn Jahre vorher hatte ihn der fanatische Papst Paul IV. aus der Cappella Sistina verbannt, nur aus dem Grund, weil er verheiratet war. Nun kehrte Maestro Pierluigi im Triumph zurück, aber nicht in den elitären Männerchor der Sixtinischen Kapelle, sondern in den Petersdom, wo Papst Julius II. den Knabenchor des Vatikan angesiedelt hatte. Bis zu seinem Tod 1594 sollte „Il Prenestino“, der Meister aus Palestrina, dieses Ensemble leiten und mit immer neuen, wundervollen Messen versorgen.

Das Mysterium der Weihnacht

Zum Weihnachtsfest 1571 dirigierte er seine Mottete „O magnum mysterium“, die er zwei Jahre zuvor in seinem ersten Motettenband veröffentlicht hatte. Sie beginnt mit geheimnisvollen Akkorden, um das Wunder der Heiligen Nacht zu umschreiben:

O großes Wunder und anbetungswürdiges Sakrament:
Wie die Tiere den geborenen Herrn sehen, in der Krippe liegend.

Das rege Leben im Stall bilden die Chorstimmen im angeregten Dialog ab. Die Hirten von Bethlehem bezeugen, was sie im Stall sehen:

„Den Neugeborenen sehen wir und die Chöre der Engel, die den Herrn preisen. Alleluja.“

Tänzerischer Dreiertakt erfasst die Stimmen beim „collaudantes Dominum“, jubelndes Melisma beim „Alleluja“. Der zweite Teil der Motette ist ein Dialog zwischen den Gläubigen und den Hirten:

„Was seht ihr, Hirten? Sagt es! Verkündet es uns! Wer ist erschienen?“
„Den Neugeborenen sehen wir und die Chöre der Engel, die den Herrn preisen. Alleluja.“

Die Fragen der Gläubigen erklingen in schlichter, chorischer Deklamation, die Hirten antworten mit den jubelnden Gesängen aus dem ersten Teil der Motette - ein Dialog ganz im Sinne des Tridentinischen Konzils. Genau so stellten sich die Konzilskardinäle wie Carlo Borromeo moderne Kirchenmusik vor: rhetorisch direkt, textverständlich, schlicht. Palestrina gelang es, diese Vorgaben von Theologen in schlichte, ergreifende Musik umzusetzen.

Messe für einen sterbenden Papst

Mit seiner Weihnachtsmotette hatte Palestrina genügend Material beisammen, um daraus eine wundervolle Weihnachtsmesse zu bauen. Die „Missa O magnum mysterium“ ist vermutlich an Weihnachten 1571 zum ersten Mal erklungen. Aus dem „O magnum mysterium“ der Motette wurde das Kyrie eleison, aus dem „Quem vidistis, pastores?“ das Christe eleison. Die Methode war nicht neu, doch das Ergebnis von überraschender Wirkung. Nie zuvor hatte eine Messe im Petersdom mit so ruhigen Akkorden in so geheimnisvollen Harmonien begonnen. Das große Wunder der Weihnacht erfasste an diesem Christtag alle Zuhörer: den greisen Papst, der vier Monate später seinem langen Krebsleiden erliegen sollte; die Gläubigen der Pfarrgemeinde von Sankt Peter, darunter Palestrinas Frau Lucrezia und die kleinen Söhne Rodolfo und Angelo; die Veteranen von Lepanto, die beim glorreichen Sieg über die türkische Flotte am 7. Oktober 1571 mitgekämpft hatten; die anwesenden Kardinäle, darunter Ippolito d’Este, den Erbauer der berühmten Villa d’Este in Tivoli. Nur ungern hatte der Kardinal Palestrina ziehen lassen, als der Papst rief. In den Jahren 1567 bis 1571 hatte der berühmte Komponist dem Kardinal als Kapellmeister gedient, durchaus auch mit Madrigalen und anderer weltlicher Musik für die Villa d’Este – in Tivoli, weit draußen vor den Toren Roms, unweit der Heimatstadt der Familie Pierluigi: Palestrina. Nun aber war der große Sohn der Bergstadt in die Sphäre der geistlichen Musik zurückgekehrt, die er bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen sollte. Um dies zu bekräftigen, hatte er gleich nach seinem Amtsantritt dem Papst zwei Messen im Manuskript geschenkt. Eine davon war die „Missa O magnum mysterium“.

Messe für einen Kalenderreformer

Elf Jahre später erinnerte sich Palestrina dieser Messe, als er dem Nachfolger des Ghislieri-Papstes endlich einen Messenband widmete. Gregor XIII. aus der Familie Boncompagni hat Weltgeschichte geschrieben, als er den julianischen Kalender reformierte und auf den „gregorianischen Kalender“ umstellte. Dies geschah im Herbst 1582. Damals wurden auch aus Palestrinas Leben zehn Kalendertage gestrichen, als sich an den 4. Oktober, einen Donnerstag, gleich der 15. Oktober als Freitag anschloss. Damit war die Christenheit wieder beim Stand des Konzils von Nicäa angekommen, und der Frühlingsanfang fiel wieder auf den 21. März. Vorläufig profitierten freilich nur die Katholiken von dieser Kalenderreform. Protestanten und Orthodoxe verweigerten sich noch Jahrhunderte dieser Umstellung. Ein so großes Werk musste auch musikalisch mit einem großen Werk gefeiert werden: Palestrina widmete dem Boncompagni-Papst 1582 sein Missarum Liber Quartus, sein viertes Buch mit Messen, gedruckt zu Venedig. Vier Messen zu vier Stimmen und drei Messen zu drei Stimmen bilden dieses Opus, und zwar in simpler Durchnummerierung: Missa prima, Missa seconda etc. Bei der „Missa tertia à 5“ handelt es sich um jene Messe über die Weihnachtsmotette „O magnum mysterium“, die Palestrina bereits elf Jahre zuvor für Gregors Vorgänger Pius V. geschrieben hatte. Nun erst gab er sie zum Druck, mit einem neuen Kyrie II und der Wiederholung des ersten Osanna.

Weihnachten in einer Baustelle

Als Palestrina zu Weihnachten 1582 vor die Cappella Giulia trat, um seine Weihnachtsmesse zu dirigieren, sah der Petersdom immer noch so aus wie anno 1571: zweigeteilt zwischen dem halbzerstörten Alt-Sankt-Peter und dem unvollendeten Neubau. Letzterer war ein riesiges Fragment, das bei Michelangelos Tod 1564 bis zum Tambour der Kuppel gediehen war – nicht weiter. Seitdem hatten sich zwar die drei Konchen der Vierung geschlossen, die Kuppel aber harrte immer noch der Vollendung. Um den geweihten Teil der alten Basilika von der Baustelle abzugrenzen, stand nach wie vor jene Mauer, die erst im 17. Jahrhundert verschwinden sollte. Palestrina dirigierte seine „Missa O magnum mysterium“ also zwischen den Säulen der Konstantinischen Basilika, nicht zwischen den Vierungspfeilern von Michelangelo, wo seine Weihnachtsmesse und Motette heutzutage gesungen werden. Die Cappella Giulia, die Palestrina so lange leitete, ist ebenfalls verschwunden. Heute sind Knabenchor und Männerstimmen in der Cappella Sistina vereint.

Zum Hören:

Palestrinas Motette „O magnum mysterium“ von 1569 mit dem englischen Chor The Sixteen unter Harry Christophers:

https://www.youtube.com/watch?v=gOND6KnNGJ8

Das Kyrie aus der Missa „O magnum mysterium“ mit demselben Chor:

https://www.youtube.com/watch?v=z9EDf0VIluM