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Irene Kiesewetter, die virtuose Pianistin aus Schuberts letzten Lebensjahren, hier porträtiert von Josef Kriehuber als Gemahlin des Diplomaten und Botschafters Anton Prokesch Ritter von Osten (1849).

Adventskalender Wien 16.12.1827

Im Dezember 1827 vollendete Franz Schubert in Wien seine große C-Dur-Fantasie für Violine und Klavier. Weihnachten feierte er im Hause Kiesewetter, wo er eine kleine Kantate komponierte.

Schuberts letzte Wiener Weihnacht

von Karl Böhmer

Wenn Franz Schubert in den 1820er Jahren in Wien Weihnachten feiern wollte, war er auf die Einladung seiner Freunde angewiesen. Als typischer Wiener Junggeselle seiner Generation (von denen es dank der strengen Ehegesetze im Österreich Metternichs nicht wenige gab) hatte er keine eigene Familie. Zum Vater und den Brüdern in die Vorstadt Lichtenthal zog es ihn damals kaum noch, seine Freunde fungierten in vielerlei Hinsicht als Familienersatz, so auch an Weihnachten 1827: Der berühmte Wiener Musikhistoriker Georg Kiesewetter hatte ihn in sein Haus eingeladen. Der Gelehrte mit einer besonderen Vorliebe für Alte Musik hielt großen Musiksalon mit vielen prominenten Gästen. Dabei wird es an Weihnachten auf sehr Wienerische Weise gesellig zugegangen sein – das Tanzbein schwingend, mit viel Punsch und Fröhlichkeit, was drei Jahre später den jungen Chopin bei seinem einzigen Wiener Weihnachtsfest so sehr irritieren sollte.

Franz Schubert war derlei schon gewöhnt und genoss es in vollen Zügen. Sein Freund Eduard von Bauernfeld bemerkte dazu nachdenklich: „Kam in dem kräftigen und lebenslustigen Schubert, so im geselligen Verkehr wie in der Kunst, der österreichische Charakter bisweilen allzu stürmisch zur Erscheinung, so drängte sich zeitweise ein Dämon der Trauer und Melancholie mit schwarzen Flügeln in seine Nähe – freilich kein völlig böser Geist, da er in dunklen Weihestunden oft die schmerzlich-schönsten Lieder hervorrief.“ An Weihnachten 1827 waren es keine „schmerzlich-schönen Lieder“, sondern zwei großen Fantasien, in denen sich die Doppelnatur des Komponisten offenbarte. Dazwischen schrieb er eine kleine, jubelnde Kantate für seine junge Gastgeberin im Hause Kiesewetter. Das Weihnachtsfest 1827 war das letzte, das Schubert erleben sollte.

Weihnachtskantate für Irene Kiesewetter

Am 26. Dezember vollendete er eine kleine italienische Kantate, die nach Weihnachten im Hause Kiesewetter „zur Feier der Wiedergenesung des Fräuleins“ aufgeführt wurde: „Al par del ruscieletto“. Irene Kiesewetter, die sechzehnjährige Tochter des Gelehrten, galt damals schon als „eine der ersten Klavierspielerinnen Wiens“, wie Schuberts Freund Jenger bemerkte, der mit der „schönen Irene“ gerne und häufig vierhändig spielte. Ende des Jahres 1827 war sie schwer erkrankt, zu Weihnachten aber wieder genesen, was Schubert so direkt miterlebt haben muss, dass er jene rührende Kantate für vier Männerstimmen, gemischten Chor und vierhändiges Klavier schrieb. Erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod durfte das Stück in der Alten Schubertausgabe erscheinen, denn Irene war inzwischen als Diplomatengattin in die höheren Kreise der Monarchie aufgestiegen. 15 Jahre lang, von 1834 bis 1849, wirkte ihr Ehemann Anton Prokesch Ritter von Osten als österreichischer Botschafter in Athen, wo Irene einen Salon nach Wiener Vorbild begründete und den Griechen als erste Klaviervirtuosin Schuberts Musik nahebrachte. Als sie 1872 im Palais Prokesch-Osten in der Grazer Elisabethstraße starb, war ihre Liebe zu Schubert und ihre Erinnerung an die schönen Wiener Jugendjahre im Haus des Vaters noch ungebrochen. Schuberts Glückwünsche für die „Bella Irene“ im Stil der italienischen Oper zahlten sich in einem langen, glücklichen Leben aus: 

Al par del ruscelletto chiaro              Dem klaren Bache gleich
La tua vita scorra Irene,                    Ströme dein Leben, Irene,
Compagne sian le grazie amene,      Die Grazien sollen dir zur Seite stehen,
E l'amistà, virtù e fè.                         Und Freundschaft, Tugend und Treue.

Il suo rigor, le tue pene                     All seinen Unbill, seine Schmerzen
Serbi a noi soli'l fato avaro,               Soll das neidische Schicksal auf uns vereinen,
E sia per noi ancor più amaro           Und es sei für uns umso bitterer,
Ond' esser prodigo con te.               Je freundlicher es dir lacht.

Irene, Dea della pace,                      Irene, Göttin des Friedens,
Conserva in lei tranquillo il cor,         Bewahre ihr ein ruhiges Herz,
Del suo filial amor la face                 Und die Fackel ihrer Kindesliebe,
Per lunga età risplenda ancor.          Lass sie leuchten für lange Zeit.

Evviva dunque la bella Irene,           Hoch lebe die schöne Irene,
La delizia del nostro amor.              Das Entzücken unserer Liebe!

Violinfantasie für Josef Slawjk

So gemütlich die Weihnachtstage bei Kiesewetters auch gewesen sein mögen: ums Komponieren und Einstudieren kam Schubert selbst zur Festzeit nicht herum. Im Dezember hatte er eine brillante Violinfantasie mit ebenso schwerem Klavierpart vollendet. Sie war für zwei Virtuosen-Freunde bestimmt: für den Pianisten Karl Maria von Bocklet und „den böhmische Paganini“ Josef Slawjk. Die beiden wollten schon im Januar die Uraufführung spielen, hatten also zwischen den Jahren alle Hände voll zu tun mit der Einstudierung. Neben den Impromptus Opus 142 war die C-Dur-Fantasie Schuberts Hauptwerk des Advents 1827. Sie beginnt geradezu adventlich-geheimnisvoll: mit einer leisen Bebung des Klaviers, über der die Violintöne wie aus dem Himmel herabzuschweben scheinen. Diesem Engelsgesang stellt ein böhmisch angehauchtes Allegretto im Polka-Rhythmus das rustikale a-Moll der Hirten gegenüber. In der Mitte stehen Variationen über das Rückert-Lied „Sei mir gegrüßt“. Ob Schubert damit das Jesuskind meinte oder doch die Geliebte, wie es in Rückerts Gedicht heißt: „O du Entriss'ne mir / Und meinem Kusse“. Ein kraftvolles Allegro vivace beschließt die Fantasie im Ton ungetrübter Freude – Vorfreude auf Weihnachten und das neue Jahr?

Vierhändige Fantasie für Comtesse Caroline

Als Irene Kiesewetter im Januar wieder ganz bei Kräften war, begann Schubert mit einer Fantasie für Klavier zu vier Händen, die er freilich erst im April 1828 vollenden konnte: die f-Moll-Fantasie, D 940. Neben der jungen Irene war damals Franz Lachner sein bevorzugter Duopartner am Klavier. Mit ihm hob er die f-Moll-Fantasie öffentlich aus der Taufe, doch weder ihm noch Fräulein Kiesewetter wurde sie gewidmet. Gedruckt wurde sie erst posthum, vier Monate nach Schuberts Tod, im März 1829 als sein Opus 103. Die Herausgeber widmeten sie der Comtesse Caroline von Esterházy, der großen, unerfüllten Liebe von Schuberts letzten Lebensjahren.

Sein Freund Eduard von Bauernfeld wurde Zeuge dieser Liebe: „Schubert scheint ernsthaft in die Comtesse E. verliebt. Mir gefällt das von ihm.“ Bauernfeld erkannte Carolines heilsamen Einfluss auf die inneren Kämpfe, die in Schuberts letztem Lebensjahr besonders heftig tobten: „Der Kampf zwischen ungestümem Lebensgenuss und rastlos geistigem Schaffen ist immer aufreibend, wenn sich in der Seele kein Gleichgewicht herstellt. Bei unserem Freunde wirkte zum Glück eine ideelle Liebe vermittelnd, versöhnlich, ausgleichend, und man darf Komtesse Caroline als seine sichtbare, wohltätige Muse, als die Leonore dieses musikalischen Tasso betrachten.“

Mit der letzten Bemerkung spielte Bauernfeld auf den gesellschaftlichen Abstand an, der Comtesse Caroline vom Komponisten trennte: Sie blieb für ihn so unerreichbar wie Prinzessin Eleonora d’Este für den Dichter Tasso im Ferrara der Renaissance. Anno 1818 war sie im Alter von 13 Jahren Schuberts Klavierschülerin geworden. Den Sommer desselben Jahres hatte er im Landschloss des Grafen Esterházy im damals ungarischen Zseliz (heute in der Slowakei) verbracht, wo er Caroline und ihre ältere Schwester Marie unterrichtete. Sechs Jahre später kehrte er noch einmal für einen Sommer nach Zseliz zurück. Nun war Caroline 19 Jahre alt, und Schubert wohnte nicht mehr im Gesindehaus, sondern im Schloss selbst. Er spielte mit Caroline eifrig „à quatre mains“ und genoss den Aufenthalt in vollen Zügen, wie man seinen Briefen entnehmen kann. Damals fertigte er für die Comtesse eine Abschrift von drei Liedern aus der Schönen Müllerin an: Ungeduld, Morgengruß und Des Müllers Blumen – eine Liebeserklärung in Sommerliedern.

Vier Jahre später schlug er in der f-Moll-Fantasie ganz andere Töne an: Sie ist in jeder Hinsicht ein Winterstück, durchzogen von Bildern tiefer Trauer und unstillbarer Sehnsucht. Das immer wiederkehrende Motto-Thema wirkt mit seinem marschartigen Rhythmus über dem ruhig schreitenden Klanggrund wie ein musikalisches Sinnbild für den Wanderer, der mit einem wehmütigen Lied auf den Lippen durch die Einsamkeit zieht. In einer für Schubert typischen Weise beschwört eine Wendung nach F-Dur die Erinnerung an die Jugend herauf, bevor mit dem ersten Forte das tragische Schicksal unerbittlich hereinbricht. Dieses Marcato-Motiv von orchestraler Wucht dient am Ende der Fantasie als Fugenthema, bevor eine letzte Wendung des Motto-Themas unwiderruflich in die Einsamkeit führt.

Zum Hören:

Cantata zur Feier der Genesung der Irene Kiesewetter, D 936 

Arnold Schoenberg Chor Wien, Leitung: Erwin Ortner, Klavierduo: Barbara Moser, Werner Schröckmayr

https://www.youtube.com/watch?v=SVnw2pUow7Y

Fantasie C-Dur für Violine und Klavier, D 934 (Dezember 1827)
Alena Baeva, Violine – Vadym Kholodenko, Klavier (Warschau, August 2020)

https://www.youtube.com/watch?v=Y9Nyv51RSt8

Fantasie f-Moll für Klavier zu vier Händen, D 940
Célia Oneto Bensaid und Théo Fouchenneret (Aix-en-Provence, November 2021)

https://www.youtube.com/watch?v=PcxPhHc3b6g