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Die alte Weimarer Schlosskapelle, „Der Weg zur Himmelsburg“ genannt. Im Gewölbe Bachs Orgel und die Musikerempore zum Vortrag der Kantaten (Gemälde von Christian Richter, 1660). 

Adventskalender Weimar 1716

Am dritten Advent 1716 führte der Weimarer Konzertmeister Bach seine Kantate „Ärgre dich, o Seele, nicht“ auf – ein Gegenentwurf zum Vorweihnachts-Hype unserer Tage.

Dritter Advent in der Himmelsburg

Dass der Advent im Barock noch keine „Vorweihnachtszeit“ mit Glitzerglanz und feuchtfröhlichen Glühwein-Exzessen war, kann man sehr schön an den drei Kantaten ablesen, die Johann Sebastian Bach für die letzten drei Adventssonntage 1716 in der Weimarer Schlosskapelle komponiert hat. Am dritten Advent, dem 13. Dezember, erklang die Kantate „Ärgre dich, o Seele, nicht“ in ihrer Weimarer Urfassung BWV 186a. Bach und sein exquisites höfisches Ensemble füllten den hohen Raum der Weimarer Schlosskapelle von der Empore aus mit italienisch weichen Streicherklängen und einem Duett im Rhythmus einer französischen Gigue.

Ihren Namen „Himmelsburg“ trug die dreigeschossige Emporenkirche, die im Schlossbrand 1774 zugrunde ging, nicht von ungefähr: Über dem gewaltigen Obelisken, der sich über dem Altar erhob, öffnete sich sonntags das Gewölbe der Decke, das ansonsten verschlossen war. Unter dem Himmelsfresko spielten die Musiker von den vier Seiten einer in die Decke eingelassenen Empore in den weiten Kirchenraum hinunter. In dieser luftigen Höhe versah der Weimarer Hoforganist Bach seinen Dienst an der ebenfalls ins Gewölbe eingefügten Orgel. Seine Kantate zum dritten Advent 1716 leitete er als Konzertmeister vom ersten Geigenpult aus. Die Intimität einer fürstlichen Kammermusik war auch in dieser Kantate zu spüren: eine stille, nachdenkliche Einstimmung auf das Kommen des Erlösers.

Ärgre dich, o Seele nicht, BWV 186a

Schon der Eingangschor kleidet die Erwartung des kommenden Messias in bußfertige, schlichte Töne:

Ärgre dich, o Seele, nicht,
Dass das allerhöchste Licht,
Gottes Glanz und Ebenbild,
Sich in Knechts-Gestalt verhüllt.

Nicht Pauken und Trompeten, nicht „Jauchzet, frohlocket“ und „Großer Herr“ stehen hier im Vordergrund, sondern die Erkenntnis, dass der Messias in Armut auf die Welt kommt, in „Knechts-Gestalt“. Dies hat Bach in die Tonart g-Moll und einen eher schlichten Chorsatz gekleidet. Nur das „Ärgre dich, o Seele, nicht“ gibt zu Beginn der beiden Teile Anlass zu scharfen Dissonanzen. Die Streicher warten dagegen mit einem italienisch wohlklingenden Quartettsatz über gehendem Bass auf – ein würdiges Eingangsstück für eine im Ton schlichte, reflektierende Adventskantate. Das Cello spielt danach in B-Dur eine Sarabande, fast wie in einer Cellosuite. Dazu lässt der Bassist seine Zweifel durchscheinen: Ist dieses ärmliche Kind wirklich der so lange erwartete Messias, der „Seelen-Freund im Kirchen-Garten“?

Bist du, der da kommen soll,
Seelen-Freund, in Kirchen-Garten?
Mein Gemüt ist Zweifelsvoll,
Soll ich eines andern warten!
Doch, o Seele, zweifle nicht.
Lass Vernunft dich nicht verstricken,
Deinen Schilo, Jacobs Licht,
Kannst du in der Schrift erblicken!

Dass der Messias seine Größe nicht im königlichen Prunk, sondern in Werken der Barmherzigkeit offenbart, verkündet der Tenor in seiner d-Moll-Arie: ruhig die erste Phrase, das „Messias lässt sich merken“, umso bewegter danach die Fiorituren der Solo-Bratsche, in denen die Freude über Jesu Gnaden-Werke Gestalt annimmt:

Messias lässt sich merken
Aus seinen Gnaden-Werken,
Unreine werden rein.
Die geistlich Lahme gehen,
Die geistlich Blinde sehen
Den hellen Gnaden Schein.

Besonders drastisch hat Bach die Zuwendung des Messias zu den Armen geschildert. Eine chromatisch absteigende, weit ausschwingende Melodielinie der Geigen untermalt den Gesang des Soprans:

Die Armen will der Herr umarmen
Mit Gnaden hier und dort!
Er schenket ihnen aus Erbarmen
Den höchsten Schatz, des Lebens Wort!

Erst im Duett zwischen Sopran und Alt nimmt die Musik die Leichtfüßigkeit des französischen Stils an, eine Gigue, wie sie auch Lully oder Campra hätten komponieren können:

Lass, Seele, kein Leiden,
Von Jesu dich scheiden,
Sei Seele getreu!
Dir bleibet die Krone
Aus Gnaden zu Lohne
Wenn du von Banden des Leibes nun frei.

Im Schlusschoral richteten Bach, seine Sänger und Streicher den Blick der Gemeinde aufs Jenseits: auf den Himmel, aus dem heraus sie musizierten:

Darum ob ich schon dulde
Hie Wiederwärtigkeit,
Wie ich auch wohl verschulde,
Kommt doch die Ewigkeit.
Ist aller Freuden voll,
Die ohne alles Ende,
Dieweil ich Christum kenne,
Mir widerfahren soll.

Vier Solisten, ein kleiner vierstimmiger Chor und Streicher genügten Bach, um diese Botschaft in bewegende Töne zu kleiden.

Ärger im Advent 1716

Obwohl Salomo Franck, seines Zeichens Hofpoet und Konsistorial-Sekretär am Hof des Herzogs Wilhelm Ernst, für jeden Advent eine vollständige Serie von vier Kantatentexten dichtete, hat der herzogliche Konzertmeister Bach nur anno 1716 Texte für den ganzen Advent vertont. Seit 1714 hatte er die Verpflichtung, alle vier Wochen eine neue Kantate zu komponieren und aufzuführen. Nun verdichtete er diesen Vier-Wochen-Turnus zu wöchentlichen Aufführungen. Am 1. Dezember 1716 war nämlich der alte Hofkapellmeister Samuel Drese verstorben. Sein Sohn als Vizekapellmeister war offenbar nicht in der Lage, die Franckschen Adventstexte im Wochenrhythmus zu vertonen, also sprang Bach ein. Da der Eisenacher aber bereits in den Vorjahren in vielerlei Hinsicht privilegiert worden war, kam es kurz vor Weihnachten doch noch zum Konflikt zwischen Bach und dem jüngeren Drese. Die Kantate zum vierten Advent ließ Bach nach dem Eingangschor offenbar unvollendet liegen (BWV 147a). Im folgenden Jahr hat er scheinbar keine einzige geistliche Kantate mehr für Weimar komponiert.

Leipziger Fassungen

Heutzutage sind jene drei Weimarer Adventskantaten von 1716 nur in Bachs späteren Leipziger Bearbeitungen überliefert. Anders als in Weimar hatte im Leipzig der Bachzeit die figurierte Kirchenmusik zwischen dem ersten Advent und dem ersten Weihnachtstag zu schweigen. Deshalb musste Bach dort für seine drei Kantaten vom Dezember 1716 neue Sonn- und Festtage suchen. Er fand sie im Rahmen seines ersten Leipziger Jahrgangs, indem er Rezitative zwischen die Weimarer Chöre und Arien einfügte, die Texte Salomo Francks zum Teil erheblich umschreiben ließ und auch die Choräle dem jeweils neuen Anlass anpasste. In dieser Form sind alle drei Werke durch die Leipziger Quellen umfangreich belegt und zumindest in einem Fall auch besonders populär geworden:

Herz und Mund und Tat und Leben, BWV 147 zum Fest Mariä Heimsuchung (2.7.1723)
Ärgre dich, o Seele, nicht, BWV 186, zum 7. Sonntag nach Trinitatis (11.7.1723)
Wachet, betet, betet, wachet, BWV 70, zum 26. Sonntag nach Trinitatis (21.11.1723)

Die Vorlagen dazu waren die Weimarer Kantaten zum zweiten bis vierten Advent 1716:
BWV 70a zweiter Advent
BWV 186a dritter Advent
BWV 147a vierter Advent
Im Falle von BWV 186a kann man die Weimarer Urfassung aus den Leipziger Quellen so gut rekonstruieren, dass der Stuttgarter Kirchenmusiker Kay Johannsen 2017 davon eine sehr schöne Konzertaufzeichnung produzieren konnte.

Zum Hören:

solistenensemble stimmkunst | Stiftsbarock Stuttgart (Konzertmeisterin: Christine Busch)
Leitung: Kay Johannsen (Aufführung im Rahmen des Zyklus’ Bach:vokal, Stiftskirche Stuttgart, 1.12.2017)

https://www.youtube.com/watch?v=f7ni-S26kZ8