Advent in Loreto, 17.12.1796
Eine Woche vor Heiligabend sang die ehrwürdige Cappella Lauretana am Heiligen Haus in Loreto das Requiem für ihren berühmtesten Sänger: den Soprankastraten Domenico Bedini.
Domenico Bedini, Opernstar und Sänger am Hl. Haus
von Karl Böhmer
Am 15. Dezember 1796, dem Dienstag vor dem vierten Advent, hatte die ehrwürdige Cappella Lauretana am Heiligen Haus in Loreto einen herben Verlust zu beklagen: Ihr berühmtester Sopranist Domenico Bedini erlag einem schweren Leiden. „Er sang zum letzten Mal am Abend des 10. Dezember, als er von einem Krampfanfall heimgesucht wurde, der ihn binnen fünf Tagen zum Tode beförderte.“ So vermerkte nüchtern die Sängerchronik des päpstlichen Chores. Zwei Tage später trug man ihn mit allen Ehren zu Grabe: „Am Tag des 17. Dezember 1796: Als Domenico Bedini, Sänger des Heiligen Hauses, in seinem 50. Lebensjahr, mit den Sakramenten der Kirche versehen, seine Seele Gott zurückgegeben hatte, wurde sein Körper vom gesamten Domkapitel in die Kirche getragen und, nachdem am Hochaltar der Verkündigung Mariä das Requiem gesungen worden war, im Grabgewölbe der Bruderschaft der ehrwürdigen Gesellschaft des Hl. Joseph bestattet.“ So lautet der lateinische Eintrag zur Beisetzung.
Sänger am Heiligen Haus und auf der Opernbühne
Zehn Jahre lang hatte Bedini in der Basilika des Heiligen Hauses gedient und bis zu 940 Gottesdienste pro Jahr gesungen, wie jeder Kastrat der Kapelle. Doch in seinem Fall wurde so manche Ausnahme gemacht, denn er zählte zu den berühmtesten Opernsängern Italiens. An der Mailänder Scala und am Teatro San Carlo in Neapel, in Rom und Florenz, Venedig und Turin, in Genua, Padua und Bologna hatte man ihm zugejubelt wegen seiner süßen Sopranstimme und seinem unvergleichlichen Cantabile. 30 Jahre lang hatte er auf der Bühne gestanden, davon die letzten 20 Jahre als erster Kastrat in der Opera seria, als primo soprano. Die Kehrseite dieser glänzenden Karriere: Bedini konnte in 30 Jahren nur ein einziges ruhiges Weihnachtsfest zuhause in Bologna feiern.
Ein junger Sopanist aus Fossombrone
Bedini kam am 19. Mai 1747 in Fossombrone bei Urbino zur Welt und wurde noch am selben Tag notgetauft. Die alte Römerstadt in den Marken hatte schon eine Generation zuvor einen fantastischen Soprankastraten hervorgebracht, Filippo Elisi, dazu etliche renommierte Tenöre und andere Opernsänger. Wer Bedinis Lehrer in der Heimat war, weiß man nicht, doch wird sein 15 Jahre älterer Bruder Giuseppe dabei entscheidend mitgewirkt haben. Er war ein ausgebildeter Bassist und Priester, der am Heiligen Haus in Loreto ab 1758 seinen Dienst versah. Seinem Vorbild eiferte der kleine Domenico nach – mit einer so schönen und vollen Sopranstimme, dass man sie durch die grausame Operation konservieren wollte.
Nach Weihnachten 1766 brach der junge Bedini von den Marken nach Bologna auf. Dies erfuhr der berühmte Padre Martini aus einem Weihnachtsbrief seines Schülers Gianbattista Bevilacqua, der als Kapellmeister an der Kollegiatskirche in der kleinen Festungsstadt Mondavio wirkte. Von dort schrieb er am 21.12.1766 nach Bologna:
Hochverehrter Maestro Padre, von Neuem verursache ich Euch eine Unbequemlichkeit, indem ich Euch ankündige, dass nach den Festen ein junger Sopranist aus Fossombrone nach Bologna kommen wird, ein Jüngling, der eine große Fähigkeit und eine schöne Grazie im Singen hat. Ich bitte daher Euer Ehrwürden um Euren Schutz für diesen Jüngling. So wie er sich mir empfohlen hat, indem er bei allen Gottesdiensten gesungen hat, seit ich hier angekommen bin, und sich dabei sehr viel Ehre erworben hat, so empfehle ich ihn nun Euch. Doch bitte ich Euch, ihn so zu protegieren, dass er nicht auf dem Weg über die Accademia filarmonica mit jenen Maestri in Kontakt kommt, denen gerade dieser junge Mann noch fehlt, der mir ein so guter Freund ist und den ich wegen seiner Gütigkeit und seines Wissens um die schönen Dinge so sehr schätze.
Schützling von Padre Martini in Bologna
Wie von Bevilacqua erhofft, nahm sich Padre Martini sofort des jungen Sängers aus den Marken an und brachte ihn als Gesangsschüler bei dem renomierten Abbate Zanardi unter. Da dieser aber mit der Academia filarmonica aufs Engste verbunden war, geschah genau das, was Bevilacqua befürchtet hatte: Bedini wurde am 27.11.1767 mit einstimmigem Votum in die Accademia filarmonica aufgenommen – drei Jahre vor dem kleinen Mozart. Wie bei Mozart wurde Padre Martini sein väterlicher Freund und Mentor – von 1767 bis zum Tod des berühmten Franziskaners im Herbst 1784. Martinis Verbindungen öffneten dem jungen Bedini die Türen zu den großen Bühnen Italiens – von Turin und Venedig über Rom und Florenz bis hinab nach Neapel. Im Gegenzug sang Bedini Oratorien und Kirchenmusik, soviel der Padre wünschte: für befreundete Kapellmeister in der Provinz, für den Neffen des Papstes, für gekrönte Häupter, die durch Bologna kamen, und zuletzt beim Requiem für Padre Martini selbst, bei dem Bedini am 2. Dezember 1784 die Hauptpartie übernahm.
Weihnachten ohne Ruhe
Sicher wird Bedini auch im feierlichen Magnificat von Padre Martini mitgesungen haben, freilich nie an Weihnachten. In seinen mehr als 20 Bologneser Jahren konnte er Advent und Weihnachten nur ein einziges Mal zuhause feiern: 1774, als das Konklave und das anstehende Heilige Jahr die üblichen Karnevalsopern verhinderten. Die restlichen 29 Adventszeiten seiner Sängerkarriere verbrachte er jeweils in einer anderen Stadt, beschäftigt mit der Einstudierung einer neuen Opera seria für den folgenden Karneval. Da die erste Karnevalsoper in Italien meistens am 26.12. uraufgeführt wurde, blieb auch an Weihnachten keine Zeit zum Feiern. Nach der Generalprobe am 24.12. besuchte Bedini die Christmette und das Hochamt am ersten Feiertag. Danach musste er seine Stimme für die Premiere schonen. Er teilte dieses Schicksal mit allen Primadonnen, Kastraten und Tenören der Opera seria in Italien: kein einziges Weihnachten in Ruhe zuhause. 1778 feierte er das Fest in Turin, 1779 in Neapel, 1780 wieder in Turin, 1781 in Rom und 1782 in Mailand, um nur fünf Jahre zu nennen. Freilich sorgte Padre Martini dafür, dass er wenigstens nicht in billigen Hotels wohnen musste, sondern bei befreundeten Kapellmeistern oder Sängern unterkam, die ihn auch an Weihnachten unter ihre Fittiche nahmen.
Nonplusultra des Cantabile
Mit dem Umzug von Bologna nach Loreto verschoben sich 1787 die Akzente in Bedinis Terminkalender: Fortan sang er nur noch im ersten Halbjahr Opera seria und verbrachte den Rest des Jahres von Ostern bis November im Dienst der Cappella Lauretana mit ihren drei gesungenen Gottesdiensten täglich. Der unbequeme Advent blieb ihm freilich erhalten, denn für die obligatorischen Karnevalsopern konnte man auf ihn nicht verzichten. Als er sich endlich entschloss, im Karneval 1793 in Verona seinen Abschied von der Bühne zu nehmen, war er noch immer der Liebling des Publikums: „Der erste Sopran Bedini hat den raffinierten Geschmack des Publikums genau getroffen; mit seiner Süßigkeit im Gesang erntet er nicht enden wollenden Applaus.” So schrieb die Gazzetta urbana veneta, nachdem er in Verona in der Titelpartie von Sartis Giulio Sabino geglänzt hatte – eine seiner Paraderollen. Er hat sie in sechs verschiedenen Opernproduktionen gesungen, mehr als jeder andere Kastrat: 1784 in Modena und Reggio, 1785 in Florenz vor dem späteren Kaiser Leopold II., 1788 in Triest vor Kaiser Joseph II., 1791 noch einmal in Reggio Emilia und schließlich 1793 in Verona: „Sabino ist anstelle des Cesare in Szene gegangen", meldete die Gazzetta Urbana Veneta am 19. Januar 1793: „Die Oper, die Musik, die Darsteller – alles wird mit Applaus überschüttet. Bedini singt das Adagio bis zum Nonplusultra und hat in der Perfektion seines Cantabile nicht Seinesgleichen.“
Geliebter Bedini
Im Frühjahr 1793 verstummte dieses berühmte Cantabile auf der Opernbühne, nicht aber in den Gottesdiensten, in Konzerten und Oratorien. Bedini war überaus fromm und verrichtete seine kirchlichen Dienste mit wahrer Hingabe. Schon als junger Kastrat schrieb er sich Kirchenmusik ab, wenn er seinen Bruder in Loreto besuchte, und trug sie am Heiligen Haus vor. Andrea Basili, der damalige Kapellmeister in Loreto, geriet ins Schwärmen und komponierte zwei schöne Kanons über Lobgedichte auf den jungen Sänger:
Caro Bedini, amato onor dell’armonia, / Vieni ch’ognun desia / Sentirti ognor cantar. („Teurer Bedini, geliebter Ehrensohn der Harmonie, komm doch, da dich jeder ständig singen hören möchte.“)
Bedini cantor sovrano, / Qual in ciel lucente stella / Tu fai tutti innamorar. („Bedini, du souveräner Sänger: Wie ein leuchtender Stern am Himmel machst du alle in dich verliebt.“)
Meister des Rondò
Dass Bedini alle Register des zeitgenössischen Gesangs beherrschte – Koloratur, Agitato und Cantabile –, wird schon an den Arien deutlich, die aus seinem Repertoire in Paris gedruckt wurden. Darunter befinden sich mehrere Beispiele für das Rondò, die große, zweiteilige Arie im Gavotte-Rhythmus, die seit den späten 1770er Jahren das Markenzeichen der Kastraten war. Bedini beherrschte diese Form wie kein Zweiter und ließ sich von den großen italienischen Meistern 25 große Rondò-Arien schreiben, fast alle in A-Dur und etliche davon regelrechte Hits der italienischen Bühnen. Während seine eigenen Lieblings-Rondòs von Cimarosa, Tarchi, Andreozzi und Borghi stammten, kennen heutige Klassikfreunde vor allem eine Arie aus diesem reichen Repertoire: „Deh per questo istante solo“, Mozarts Rondò des Sesto aus La clemenza di Tito. Es war Bedinis Glanznummer bei der böhmischen Königskrönung Leopolds II. 1791 in Prag, wo er als Stargast aus Italien auch Mozart beeindruckte. Noch bis in seine letzten Opern und Oratorien hinein hat er immer wieder großen Rondò-Arien gesungen: „Geh, stolz auf deinen hohen Ruhm, unsterblicher Bedini! Zwar kannst du dich der Blüte deiner Jahre nicht mehr rühmen, doch hast du dich zum Gegenstand rückhaltloser Bewunderung erhoben.“ So dichtete ein Zeitgenosse im Juni 1791 in Padua, bezaubert von einem besonders schönen Bedini-Rondò, das sich bis heute in Regensburg erhalten hat: „Senza lei che l'idol mio“ von Antonio Calegari. Kaiser Leopold II. hörte ihn damit am 30. Juni 1791 in Padua und engagierte ihn sofort die Prager Krönungsoper. Die Premierenkritik in Padua jubelte: „Bedini gefiel über die Maßen in seinem Rondò!“.
1793 schloss Bedini die langen Reihe seiner Opernerfolge in Verona mit Sartis Giulio Sabino und dem Rondò „In qual barbaro momento“. Mit der hinreißend schönen Melodie des trauernden Sabino verabschiedete er sich von der Opernbühne. Noch drei ruhige Weihnachtsfeste waren ihm im Dienst des Heiligen Hauses zu Loreto vergönnt, bevor er das Zeitliche segnete – neun Tage vor Weihnachten 1796.
Zum Hören:
Mozart: „Deh per questo istante solo“, Rondò des Sesto aus La clemenza di Tito, Valer Sabadus, Großes Orchester Graz, Michael Hofstetter
https://www.youtube.com/watch?v=Cr8wbQP8nTw
Giuseppe Sarti: Sabinos Rondò „In qual barbaro momento“ aus Giulio Sabino, Sonia Prina, Ottavio Dantone
https://www.youtube.com/watch?v=MjkvkNHYdbY&list=OLAK5uy_mKU3DzCIVpI8Yg-99t1MPMNqUy6pgBKwY&index=44
Padre Martini: Salvete Sacra Stigmata & Magnificat à 4, Ensemble Cantissimo, L'arpa festante, Markus Utz