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Mendelssohn mit 21 Jahren in Rom, gemalt von Horace Vernet, dem Direktor der Französischen Akademie in der Villa Medici (Foto: Wikipedia).

Adventskalender Rom 20.12.1830

Vier Tage vor Heiligabend beschrieb der junge Felix Mendelssohn seiner Familie, „wie froh die Welt hier in Rom ist“ - bei sommerlichem Sonnenschein auf dem Pincio hoch über der Ewigen Stadt.

Mendelssohn in Rom, 20. Dezember 1830

von Karl Böhmer

Da stand er nun, der 21 Jahre alte Berliner Protestant und geniale Musiker, mitten im päpstlichen Rom – ohne seine geliebte Familie, ohne Christbaum und ohne die gediegene deutsche Weihnachtsmusik. Doch der milde Dezember in Rom ließ auch den jungen Mendelssohn nicht kalt. Wer jemals einen späten Nachmittag auf dem Pincio verbracht hat, zwischen Spanischer Treppe und Villa Medici, der kann die Gefühle des jungen Berliners unmittelbar nachvollziehen:

„20. Dec. 30: Wie froh die Welt hier in Rom ist! Heut ist nämlich wieder der wärmste Sonnenschein, blauer Himmel, klare Luft, und an solchen Tagen habe ich meine eigne Lebensart: bin fleißig bis 11 und von da an bis zur Dunkelheit thue ich nichts, als Luft athmen; gestern war seit mehreren Tagen wieder zum erstenmal ganz heiteres Wetter; ich ging auf den Monte Pincio und ging da den ganzen Tag auf und ab. Es ist ein unglaublicher Eindruck, den diese Luft und die Heiterkeit macht, und als ich heut aufstand und wieder den klaren Sonnenschein sah, so freute ich mich auf das Nichtsthun, das heut wieder ebenso anfangen soll … Da geht denn die ganze Welt auf dem Berg hin und her, und freut sich des Frühlings im December; man trifft alle Augenblicke Bekannte, geht mit ihnen ein Stück, verläßt sie und bleibt wieder allein, und kann schön träumen, von den schönen Gesichtern wimmelt's; wie die Sonne rückt, so verändert sie die Landschaft und alle Farben. Kommt das Ave Maria, so geht es in die Kirche von Trinità de' Monti, da singen die französischen Nonnen, und es ist wunderlieblich. Ich werde bei Gott ganz tolerant und höre schlechte Musik mit Erbauung an. Aber was ist zu thun? Die Composition ist lächerlich, das Orgelspiel noch toller. Aber nun ists Dämmerung, und die ganze kleine bunte Kirche voll knieender Menschen, die von der Sonne hell beschienen werden, sobald die Thür einmal aufgeht, die beiden singenden Nonnen haben die süßesten Stimmen von der Welt, ordentlich rührend zart … da wird einem ganz wunderlich."

Heimlich beschloss Mendelssohn, für die Nonnen der berühmten Kirche an der Spanischen Treppe eine eigene Marienmotette zu komponieren und sie ihnen anonym zuzusenden: „Ich freue mich sehr darauf, der Text ist lateinisch, ein Gebet an die Maria. Gefällt Euch nicht die Idee?“ Und schon wich der Müßiggang des 20. Dezembers neuem Schaffen, wozu der verheerende römische Regen schon wenig später das Seine beitragen sollte …

Vom Himmel hoch, da komm ich her

„Zu Weihnachten denke ich mir den Lutherschen Choral zu komponieren.“ Auch das verriet Felix seiner Familie im Weihnachtsbrief vom 20.12. Was ihm in Rom musikalisch am meisten fehlte, waren die vertauten deutschen Weihnachtschoräle. Wie gut, dass ihm Franz Hauser zum Abschied von Berlin ein Büchlein mit Luther-Chorälen geschenkt hatte. Er schrieb sich das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her" in sein Tagebuch und begann zu komponieren. Keine Kantate im Bachstil, sondern eher ein rauschendes Fest der Orchesterklänge rund um die vertraute Melodie. Ob sich der junge Deutsche doch von der italienischen Musik beeindrucken ließ, trotz der angeblich so schauerlichen Aufführungen in Roms Opernhäusern? Rossinis La donna del Lago konnte er ab 10. November im Teatro Valle hören, und Pacini, der ewig vergessene Konkurrent des jungen Verdi, probte am frisch renovierten Teatro Apollo schon seine neue Oper Il Corsaro nach Byron. Sollte da ausgerechnet Mendelssohn nicht neugierig geworden sein? Der Orchesterrausch der Ouvertüren und der großen Chöre von Rossini und Pacini ist an ihm nicht spurlos vorübergegaangen, wie der Eingangschor seiner Weihnachtskantate zeigt.

Aufführung in der Mainzer Stephanskirche

Als das ZDF 2015 sein Weihnachstkonzert in der Mainzer Stephanskirche aufzeichnete, mit Bundespräsident Joachim Gauck und Ministerpräsidentin Malu Dreyer in der ersten Reihe, da dirigierte Karl-Heinz Steffens die Deutsche Staatsphilharmonie und den Mainzer Domchor in einer mitreißenden Aufführung jener römischen Lutherkantate von Mendelssohn (wobei unser ehemaliger Freiwilliger im FSJ, Jascha Krams, als Domchorknabe in der ersten Reihe sang). Ob die Zuhörer und Zuhörerinnen damals ahnten, wie viel Kulturgeschichte sich in diesem einen Werk, musiziert vor den Chagall-Fenstern von Sankt Stephan, entfaltete? Eine hochromantische deutsche Musik über Luthers populärstes Weihnachtslied, komponiert vom berühmtesten aller jüdischen Komponisten, der doch getaufter Protestant war, mitten im katholischen Rom während des Konklave, als die Kardinäle nach einem neuen Papst suchten! Musste sich Mendelssohn dabei nicht vorkommen wie Luther selbst, der bekanntlich als Augustinermönch in Rom seine eigenen Erfahrungen mit der Kurie gesammelt hatte? Natürlich wandelte der junge Felix auf den römischen Pfaden des großen Reformators. Das war er schon seiner Familie schuldig. Ob er auch das Ghetto und die Synagoge besucht hat? Dass er das Los der Juden in der Ewigen Stadt wahrnahm, kann man seinen Briefen entnehmen. Wie sehr ihn aber die katholischen Gebräuche faszinierten oder abstießen, darüber geben seine römischen Reisebriefe nur unzureichend Auskunft. Die ironische Distanz des aufgeklärten Berliners zum „Aberglauben“ der Katholiken abgerechnet, wird noch genügend Faszinosum übrig geblieben sein. Denn von Katholizismus in seiner geballtesten Form bekam er während seiner römischen Monate weiß Gott genug zu sehen und zu hören.

Konklave an Weihnachten

Der junge Mendelssohn war, ohne dass er es hätte ahnen können, genau zum richtigen Zeitpunkt nach Rom gekommen. Er erlebte all jene Ereignisse mit, die anno 2005 auch die moderne Welt bewegten: den Tod eines Papstes, das Konklave und die Wahl des Nachfolgers. Noch mehr weltbewegende Ereignisse hätte der junge Berliner in seine erste Romreise nicht hineinpacken können. Schon seine Ankunft an Allerheiligen war vom typisch römischen Totengedenken geprägt. 30 Tage später starb Papst Pius VIII. Castiglioni. Am 14. Dezember trat das Konklave zusammen, das sich erst nach 54 Tagen, am Fest Mariä Lichtmess, auf einen Nachfolger einigen konnte: Papst Gregor XVI. aus der venezianischen Familie Cappellari. Mendelssohn wunderte sich nicht wenig über die Pasquinaden und Spottgedichte, die das lange Konklave begleiteten, ebenso über den Lärm der Bauarbeiter im Petersdom, die am Katafalk für den verstorbenen Papst just während der stillen Adventsmessen hämmerten. Im tiefsten Innern war er dem typischen Chaos der Römer weit mehr gewachsen als etwa sein Bankier-Bruder Paul, der bei seiner eigenen, viel späteren Romreise an den Zuständen in der Ewigen Stadt fast verzweifelte. Auch die lärmende Adventsmusik der Zampognari, der Hirtenmusiker aus den Abruzzen, hat Felix weit mehr genossen als der Franzose Stendhal, und die majestätische Musik von Palestrina imponierte ihm schon bei der Aufbahrung des verstorbenen Papstes im Petersdom. Wäre sonst seine eigene, lutherische Weihnachtskantate so festlich ausgefallen? Auch das Übermaß an barocken Glaubensbildern in den Kirchen Roms hat im orgiastischen Anfang dieser Kantate ihren Niederschlag gefunden - scheint es doch so, als würden hier Heerscharen von Engeln aus dem Himmel im Sturzflug zur Krippe hinunterfliegen, just so, wie man es auf den römischen Deckenfresken eines Cortona, Pozzo oder Bacciccio sehen kann.

Wie anders hat Mendelssohn 14 Jahre später im Elias den Gesang der Engel vertont: als ebenso schlichten wie ergreifenden Doppelchor ohne Orchester in einfacher deklamatorischer Bewegung. Nicht zufällig erinnert die Linienführung dieses Chores an die weihnachtlichen Chorsätze von Palestrina, die der junge Mendelssohn in Rom hören konnte. Zwischen dem „Alma Redemptoris Mater" des Giovanni Pierluigi und dem Engelsgesang des Felix Mendelssohn liegt nur ein Wimpernschlag der Musik- und Kirchengeschichte.

Zum Hören und Schauen:

Felix Mendelssohn: Eingangschor der Kantate „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ mit dem Mainzer Domchor und der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Karl-Heinz Steffens (ZDF Weihnachtskonzert 2015 in der Mainzer Stephanskirche):

https://www.youtube.com/watch?v=_xyZ9o7Z8Dk

Palestrina: Alma Redemptoris Mater, die marianische Antiphon zur Weihnachtszeit, The Tallis Scholars, Leitung: Peter Phillips

https://www.youtube.com/watch?v=6PSRWWBz61

Mendelssohn: Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, Stuttgarter Kammerchor, Leitung: Frieder Bernius

https://www.youtube.com/watch?v=xjjQT6cQRRs