Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, 1842 porträtiert von Moritz Daniel Oppenheim.

Weihnachten bei Mendelssohns

Aus Winterstürmen löst sich in Fanny Mendelssohns Klavierstück Dezember Luthers Choral Vom Himmel hoch – geschrieben für das Weihnachtsfest 1841 mit Bruder Felix und Familie in Berlin.

Fanny Mendelssohn in Berlin, Advent 1841

Für Fanny Mendelssohn war Weihnachten 1841 ein wahres Fest: Bruder Felix mit Familie verbrachte die Feiertage ausnahmsweise in Berlin. Alle Mendelssohns trafen sich wie früher in der Leipziger Straße 3. Dabei war Fanny mit Ehemann Wilhelm Hensel quasi die Gastgeberin, zumindest die treibende Kraft der Vorbereitungen. Schon im Advent gab es so viel zu tun: das Haus herrichten, Geschenke besorgen und endlich einmal mit Schwägerin Cécile über alles sprechen, was sich in Leipzig so ereignete. Ihrem Bruder Felix hätte sie so gerne ausführlich von ihrer Italienreise im letzten Winter erzählt, doch das musste bis nach Weihnachten warten. Denn die Leipziger Neffen und Nichte spielten vorerst die Hauptrolle, besonders der neugeborene Paul. Es war ein wahres Familienweihnachten. Für Mutter Lea, die als Witwe von den Kindern umsorgt wurde und die Enkel mit besonderer Freude sah, sollte es das letzte Weihnachtsfest sein: Mitten im Advent 1842, am 12. Dezember, ist sie völlig überraschend verstorben – so plötzlich wie fünf Jahre später ihre Kinder Fanny und Felix.

Anno 1841 war die Macht des Schicksals aus der Leipziger Straße 3 noch ausgesperrt. Fanny krönte ihren Klavierzyklus Das Jahr mit einem Stück über den Dezember: eine winterliche Sturmmusik, die in eine verklärte Fantasie über Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch mündet – ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Bruder Felix.

Berliner Verwerfungen

Im alten Zuhause, bei Mutter und Schwester fühlte sich Felix weitaus wohler als im Rest von Berlin. König Friedrich Wilhelm IV. hatte den Leipziger Musikdirektor als Hofkapellmeister nach Berlin und Potsdam beordert – ohne klaren Auftrag und ohne geklärte Machtverhältnisse gegenüber dem neuen Hofoperndirektor Meyerbeer. Auch das Berliner Publikum und den Zustand der preußischen Metropole kannte der ehemalige Berliner Mendelssohn nur zu gut. Einem Freund schrieb er verbittert, „daß alle Ursachen, welche es mir damals unmöglich machten, meine Laufbahn hier zu beginnen und zu erweitern … nach wie vor bestehen und leider auch wohl für ewige Zeiten bestehen werden.“ Immerhin konnte er mit seinem ersten Postdamer Werk, der Schauspielmusik zur Antigone von Sophokles, einen gewichtigen Auftakt setzen. Zur Uraufführung am 28. Oktober 1841 waren nur 200 geladene Gästen des Königs im Theater des Neuen Palais zugelassen. Immerhin gehörte auch Schwester Fanny dazu.

Heiligabend auf der Leipziger Straße

Verglichen mit seinen Pflichten im höfischen Berlin wirkte das Familienleben auf der Leipziger Straße 3 wie Balsam auf die Wunden des Komponisten. Wo heute der Deutsche Bundesrat tagt, hatte Mendelssohns verstorbener Vater Abraham ein stattliches Familienanwesen gebaut. Dort feierte der berühmteste Musiker Deutschlands das Weihnachtsfest 1841 so, wie es sich damals in Deutschland schon gehörte: unter dem Christbaum, mit viel Musik und Geschenken für Schwester Fanny, Schwager Hensel und den Neffen Sebastian, für Ehefrau Cécile und für die drei eigenen Kinder. Leider wissen wir nicht, was der knapp vierjährige Carl, seine 20 Monate jüngere Schwester Marie und der erst zehn Monate alte Paul geschenkt bekamen. Patenonkel Paul, der Bankier der Familie, fand sich auch ein, mit Geschenken für den Patensohn aus Leipzig.

Traum einer Christnacht

Das Musizieren der Geschwister Mendelssohn feierte an Weihnachten fröhliche Urständ: Fanny glänzte in ihrem neuen Klavierzyklus. Paul holte sein Stradivari-Cello aus dem Futteral und spielte mit Felix die drei Jahre zuvor publizierte Cellosonate in B-Dur. Mit einem befreundeten Geiger führte man das erst zwei Jahre alte d-Moll-Klaviertrio auf – Kammermusik-Weihnacht im Hause Mendelssohn. Dabei lag noch ein ganz anderes Projekt auf Mendelssohns Berliner Schreibtisch: Titania, or The Christmas Night’s Dream. So nannte der englische Zeichner und Apotheker William Bartholomew ein Opernlibretto, das er für Mendelssohn bestimmt hatte. Noch war es vom Meister nicht gänzlich verworfen worden, denn der Schott-Verlag in Mainz bekundete starkes Interesse an einer deutschen Märchenoper von Mendelssohn. Man stelle sich vor, das Genie der Romantik hätte ein einziges Mal seine Skrupel gegenüber Opernlibretti überwinden können. Dann wäre lange vor Humperdincks Hänsel und Gretel eine weihnachtliche Märchen- und Feenoper genau von dem Komponisten auf die Bühnen gelangt, der für dieses Genres wie geschaffen war: Titania, oder Der Traum der Christnacht. Schlussendlich konnte Mendelssohn seinen Widerwillen gegen die Opernbühne nicht überwinden – schon allein wegen Meyerbeers Berliner Umtrieben. So blieb das Weihnachtsfeenlibretto von Bartholomew unvertont liegen. Hört man aber den Dezember von Schwester Fanny mit der winterlich stürmischen, geisterhaft flirrenden c-Moll-Einleitung, aus der sich allmählich die Choralmelodie Vom Himmel hoch, da komm ich her in reinem C-Dur herausschält, dann hat man schon fast die Ouvertüre zur nie komponierten Weihnachtsoper des Bruders vor sich.

Zum Hören

Fanny Hensel-Mendelssohn: Dezember aus dem Klavierzyklus Das Jahr

https://www.youtube.com/watch?v=bTn74p0_UwE

Felix Mendelssohn: Antigone, René Pape, Berliner Rundfunkchor, RSO Berlin, Stefan Soltesz 1991

https://www.youtube.com/watch?v=AilA_ms6Veg

Felix Mendelssohn: Cellosonate B-Dur, op. 45, Antonio Meneses, Violoncello, Gérard Wyss, Klavier

https://www.youtube.com/watch?v=G7uR9exPYo0