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Rom, Santa Maria Maggiore, Cappella Sistina, wo bis zum 19. Jahrhundert die Krippenreliquie stand. Hier hob Alessandro Scarlatti am 24.12.1707 seine Missa per il SS. Natale aus der Taufe.

Heiligabend in Rom 1707

Am 24.12.1707 hob Alessandro Scarlatti in der Krippenkapelle von S. Maria Maggiore seine Weihnachtsmesse aus der Taufe.

Natale in S. Maria Maggiore, Rom 1707

von Karl Böhmer

Kein Weihnachtsfest in Rom ohne einen Besuch in Santa Maria Maggiore. Dieser Tage strömen noch Tausende von Pilgern, um am Grab von Papst Franziskus im linken Seitenschiff zu beten und durch die Heilige Pforte einzutreten, die am ersten Feiertag wieder für 25 Jahre geschlossen wird. Doch Jahrhunderte lang war es vor allem eine besonders kostbare Weihnachtsreliquie, die alle Gläubigen hierher lockte: die Überreste der Krippe von Bethlehem. Um 645 kamen sie als Geschenk des Patriarchen von Jerusalem in die Ewige Stadt, und noch heute kann man vor ihnen beten. Dazu steigt man in die Confessio vor dem Hochaltar hinab, wo Papst Pius IX. in Gestalt einer riesigen knienden Marmorstatue in ewiger Anbetung verharrt. Er war es, der die Krippenreliquie 1864 hierher transferieren ließ, nachdem sie Jahrhunderte lang in der rechten großen Seitenkapelle der Basilika verehrt worden war. Die Grabkapelle Sixtus’ V., heute nur noch Cappella Sistina genannt, hieß deshalb früher Cappella del Presepio. Dort wurde die Heilige Krippe mit ganz anderer Musik verehrt, als sie heute durch die Lautsprecher der Basilika dringt, wenn man ihr seinen Weihnachtsbesuch abstattet.

Scarlatti in der Basilika Liberiana

Erst am 18. November 1707 war der große Alessandro Scarlatti mit seiner Familie aus Urbino nach Rom zurückgekehrt, um seine neue Stelle als Kirchenmusiker anzutreten: Kapellmeister an S. Maria Maggiore! Gerade noch rechtzeitig traf er in Rom ein, um die Weihnachtsmesse für die Cappella del Presepio zu komponieren und einzustudieren. Doch bei der Vorbereitung dieser wichtigsten Messe des Jahres schlug ihm kalter Wind entgegen, der nicht von der Tramontana kam, sondern von den Musikern der Basilika. Vergeblich hatten sie sich dagegen gewehrt, dass ihnen vom pästlichen Vizekanzler, Kardinal Ottoboni, der große Sizilianer Scarlatti als Kapellmeister vor die Nase gesetzt wurde, wären sie doch viel lieber unter dem Dirigat eines Römers aufgetreten. Prompt begann Scarlatti damit, als Solisten für Heiligabend die besten Sänger der Sixtinischen Kapelle aus dem Vatikan einzuladen: Francesco Besci, der gefeierte neue Starkastrat Roms, sang den ersten Sopran, sein Kollege Pasqualino Tiepoli den Soloalt. Die päpstlichen Sänger standen im ersten Chor des doppelchörigen Werkes, die Kollegen von Santa Maggiore mussten sich mit dem zweiten Chor begnügen. Um aber sicher zu stellen, dass sie dort kein Unheil anrichteten und seine Messe sabotierten, setzte er seinen Sohn Domenico als Unterdirigenten im zweiten Chor ein. Als Geiger lud er die beiden prominentesten Schüler von Corelli ein, Antonio Montanari und Pietro Castrucci – später Händels Konzertmeister im Londoner Opernorchester. Außerdem sicherte sch Scarlatti Filippo Amadei, genannt „Pippo del Violoncello“, den berühmtesten Cellisten Roms.

Klanggewölbe über der Krippe

Mehr als diese drei brillanten Streicher und einen Kontrabassisten brauchte Scarlatti nicht als „Orchester“ für seine Weihnachtsmesse, denn sie wurde nicht im weiten Langhaus der Basilika aufgeführt, sondern in der Cappella Sistina. Die kostbare Grabkapelle des Peretti-Papstes Sixtus’ V. ist ein kompakter Zentralbau, eine Kuppelkirche neuen Typs mit hohen Emporen, gebaut als gewaltiger Reliquienschrein für die Überreste der Krippe von Bethlehem. Schon wenige Sänger und Instrumentalisten genügten, um den ganzen Raum von oben herab mit Klang zu füllen, und dies machte sich Scarlatti für seine Weihnachtsmesse zu Nutze. Zu den fünf Solisten des ersten Chors kamen im zweiten Chor nur vier Ripienstimmen hinzu, doch die Kunst der doppelchörigen Verflechtung dieser neun realen Stimmen schuf ein derart dichtes Klanggewölbe, dass die Gläubigen in der feierlichsten Messe des  Jahres wie in klingende Weihrauchschwaden gehüllt wurden. So wurden sie auf die Prozession eingestimmt, mit der man die Krippenreliquie in der Heiligen Nacht durch die weite Basilika trug.

Fröhliche Weihnachtsmesse

Scarlattis Messa per il Santissimo Natale ist eine fröhliche Weihnachtsmesse, komponiert in der strahlenden Tonart A-Dur. Die Geigen beginnen mit einem heiteren Vorspiel im Stil römischer Hirtenmusik, bevor die Chorsänger ihr erstes Klanggewölbe im Palestrina-Stil ausbreiten. Innige Terzen im Dreiertakt lenken im „Christe eleison“ den Blick auf das Jesuskind in der Krippe. Diese wiegende Weihnachtsmusik wiederholt sich an allen Stellen der Messe, an denen vom Jesuskind die Rede ist: beim „Domine Deus, fili unigenite“ im Gloria und beim „Incarnatus“ im Credo. Das zweite Kyrie ist einem Volkstanz abgelauscht, verwandelt in vielstimmiges Gotteslob. Nach der gregorianischen Intonation des Gloria legt sich zunächst weihnachtlicher Friede über die Erde, bis plötzlich die Engel ihr vielstimmiges Jubilieren in den Höhen hören lassen: „Et in terra pax hominibus bonae voluntatis“. Im „Laudamus te“ melden sich die Geigen mit einem munteren Menuett zu Wort, im „Domine Filii unigenite“ singen die Solisten wieder weiche Terzen für das Jesuskind. Im „Qui tollis“ hat Scarlatti seine hohe Kunst des Kontrapunkts unter Beweis gestellt, gipfelnd in schmerzlichen Vorhaltsdissonanzen beim „Miserere nobis“. Zu Beginn des Credo kehrt die Hirtenmusik vom Anfang des Kyrie wieder. So wechselt seine Messe ständig hin und her zwischen breiten, feierlichen Klangflächen, tänzerischer Hirtenmusik und der innigen Verehrung des Jesuskindes in der Krippe. Die Letztere gipfelt im „Incarnatus“, dem Vers zur Menschwerdung des Gottessohnes im Credo. Hier hat Scarlatti nur mit Singstimmen und Continuo den Bordunklang italienischer Dudelsäcke nachgeahmt, der Zampogne, verwandelt in feierlichste Kirchenmusik.

Bitte um Frieden

Der magische Moment dieser halbstündigen Messe kommt ganz zum Schluss: das Agnus Dei. Komponiert im reinen Palestrinastil, verleiht es der Sehnsucht nach dem weihnachtlichen Weltfrieden wundervollen Ausdruck: „Lamm Gottes, der du trägst die Schuld der Welt, gib uns deinen Frieden.“ Kein Römer gab sich an jenem Weihnachtsfest der Illusion hin, dass die kaiserliche Armee den Kirchenstaat verschonen würde. Ihr Durchzug gen Neapel war nur das Vorspiel zum Krieg, den die päpstlichen Truppen 1709 sang- und klanglos verlieren sollten. Seit dem „Sacco di Roma“, der Verwüstung Roms durch herrenlose Söldner Karls V. im Jahr 1527, hatte es kein Habsburger gewagt, den Papst militärisch anzugreifen. Doch der junge Kaiser Joseph I. in Wien schreckte vor nichts zurück. Die friedlichen Klänge von Scarlattis Weihnachtsmesse waren Balsam auf die Seelen der Römer, die nicht wussten, wann der Krieg über sie hereinbrechen würde. Umso inniger beteten sie zur Reliquie jener Krippe, in der einst der Erlöser geboren wurde, um den Menschen auf Erden den Frieden zu bringen.

Zum Hören:

Scarlatti: Messa per il Santissimo Natale (Rom, 1707) 

KYRIE mit dem Ensemble Festina Lente unter Michele Gasbarro:

https://www.youtube.com/watch?v=lNUspyUU_2o

GLORIA mit dem Ensemble Festina Lente unter Michele Gasbarro:

https://www.youtube.com/watch?v=0baKuzM530k

CREDO mit dem Ensemble Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini:

https://www.youtube.com/watch?v=ZZfPuSH6Hfk

AGNUS DEI mit dem Ensemble Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini:

https://www.youtube.com/watch?v=af9wwJZeERs