Weihnachten bei Mendelssohns
Am 4.12.1841, dem Samstag vor dem zweiten Advent, war Felix Mendelssohn in Leipzig noch unabkömmlich, doch schon montags drauf brach er nach Berlin auf.
Die Mendelssohns in Berlin, Advent 1841
Für Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, war es wahrhaft ein Fest: Bruder Felix mit Familie kam aus Leipzig nach Berlin, um Weihnachten im Elternhaus zu feiern. Ihm freilich war nicht wohl dabei: Als er in der zweiten Adventswoche 1841 wieder den Boden des ungeliebten Berlin betrat, kamen sogleich alle schmerzlichen Erinnerungen an den Beamtenungeist und den Antisemitismus der preußischen Metropole in ihm hoch. Obwohl ihn seine Schwester Fanny mit offenen Armen empfing, blieb seine Haltung den Berlinern gegenüber reserviert. Seine nicht sehr hohe Meinung von ihrem Musikgeschmack wurde auch dadurch nicht aufgewertet, dass sie Ende Dezember 1841 rückhaltlos dem brillanten Franz Liszt zujubelten. Mendelssohn ärgerte sich über die Bach- und Beethoven-Bearbeitungen des Klaviergenies aus Ungarn, die er als geschmacklos empfand. Umso wohler fühlte er sich im Kreis der Seinen – ein wahres Familienweihnachten. Für Mutter Lea, die als Witwe von den Kindern umsorgt wurde und die Enkel mit besonderer Freude sah, sollte es das letzte Weihnachtsfest sein: Mitten im Advent 1842, am 12. Dezember, ist sie völlig überraschend verstorben – so plötzlich wie fünf Jahre später ihre Kinder Fanny und Felix.
Anno 1841 war die Macht des Schicksals aus der Leipziger Straße 3 noch verbannt. Fanny krönte ihren Klavierzyklus Das Jahr mit einem Stück über den Dezember: eine winterliche Sturmmusik, die in eine verklärte Fantasie über Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch mündet – ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Bruder Felix.
Berliner Verwerfungen
Im alten Zuhause, bei Mutter und Schwester fühlte sich Felix weitaus wohler als im weiten Berlin. König Friedrich Wilhelm IV. hatte den Leipziger Musikdirektor als Hofkapellmeister nach Berlin und Potsdam beordert – ohne klaren Auftrag und ohne geklärte Machtverhältnisse gegenüber dem neuen Hofoperndirektor Meyerbeer. Das Berliner Publikum war Mendelssohn ebenso suspekt wie der Zustand der preußischen Staatsverwaltung. Einem Freund schrieb er verbittert, „daß alle Ursachen, welche es mir damals unmöglich machten, meine Laufbahn hier zu beginnen und zu erweitern … nach wie vor bestehen und leider auch wohl für ewige Zeiten bestehen werden.“ Immerhin konnte er mit seinem ersten Postdamer Werk, der Schauspielmusik zur Antigone von Sophokles, einen gewichtigen Auftakt setzen. Zur Uraufführung am 28. Oktober 1841 waren nur 200 geladene Gäste des Königs im Theater des Neuen Palais zugelassen. Immerhin gehörte auch Schwester Fanny dazu.
Heiligabend auf der Leipziger Straße
Im Vergleich zum steifen Gebahren bei Hofe wirkte das Familienleben auf der Leipziger Straße 3 wie Balsam auf die Wunden des Komponisten. Wo heute der Deutsche Bundesrat tagt, hatte Mendelssohns verstorbener Vater Abraham ein stattliches Familienanwesen gebaut. Dort feierte der berühmteste Musiker Deutschlands das Weihnachtsfest 1841 so, wie es sich damals in Deutschland schon gehörte: unter dem Christbaum, mit viel Musik und Geschenken für Schwester Fanny, Schwager Hensel und den Neffen Sebastian, für Ehefrau Cécile und für die drei eigenen Kinder. Leider wissen wir nicht, was der knapp vierjährige Carl, seine 20 Monate jüngere Schwester Marie und der erst zehn Monate alte Paul geschenkt bekamen. Patenonkel Paul, der Bankier der Familie, fand sich auch ein, sicher auch mit Geschenken für den Patensohn aus Leipzig.
Der Traum der Christnacht
Das Musizieren der Geschwister Mendelssohn feierte an Weihnachten fröhliche Urständ: Fanny glänzte in ihrem neuen Klavierzyklus. Paul holte sein Stradivari-Cello aus dem Futteral und spielte mit Felix die drei Jahre zuvor publizierte Cellosonate in B-Dur. Mit einem befreundeten Geiger führte man das erst zwei Jahre alte d-Moll-Klaviertrio auf – Kammermusik-Weihnacht im Hause Mendelssohn. Dabei lag noch ein ganz anderes Projekt auf Mendelssohns Berliner Schreibtisch: Titania, or The Christmas Night’s Dream. So nannte der englische Zeichner und Apotheker William Bartholomew ein Opernlibretto, das er für den im Inselreich so überaus populären Komponisten bestimmt hatte. Noch war es vom Meister nicht gänzlich verworfen worden, denn der Schott-Verlag in Mainz bekundete starkes Interesse an einer deutschen Märchenoper von Mendelssohn. Man stelle sich vor, das Genie der Romantik hätte ein einziges Mal seine Skrupel überwunden und lange vor Humperdincks Hänsel und Gretel eine weihnachtliche Märchen- und Feenoper geschaffen: Der Traum der Christnacht. Schlussendlich konnte Mendelssohn seinen Widerwillen gegen die Opernbühne nicht überwinden – schon allein wegen Meyerbeers Berliner Umtrieben. So blieb das Feenlibretto von Bartholomew unvertont liegen. Hört man aber den Dezember von Schwester Fanny mit der winterlich stürmischen, geisterhaft flirrenden c-Moll-Einleitung, aus der zuerst zart und leise, dann triumphal die Choralmelodie Vom Himmel hoch in reinem C-Dur hervortritt, hat man schon fast die Ouvertüre zur nie komponierten Weihnachtsoper des Bruders vor sich.
Zum Hören
Fanny Hensel-Mendelssohn: Dezember aus dem Klavierzyklus Das Jahr
https://www.youtube.com/watch?v=bTn74p0_UwE
Felix Mendelssohn: Antigone, René Pape, Berliner Rundfunkchor, RSO Berlin, Stefan Soltesz 1991
https://www.youtube.com/watch?v=AilA_ms6Veg
Felix Mendelssohn: Cellosonate B-Dur, op. 45, Antonio Meneses, Violoncello, Gérard Wyss, Klavier