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Der Flötenvirtuose aus Besançon, der in Paris zum Star des Rokoko wurde: Michel Blavet, gemalt um 1730 von Henri Millot (Quelle: Wikipedia).

Advent in Paris, 8.12.1728

Vor 300 Jahren, anno 1725, wurde in den Tuilerien das Concert Spirituel ins Leben gerufen, die wichtigste Pariser Konzertreihe des 18. Jahrhunderts. Auch am 8.12. wurde dort alljährlich Geistliches und Weltliches geboten.

Unbefleckte Empfängnis in Paris, 8. Dezember 1728

Von Karl Böhmer

Es war ein besonders prachtvolles Konzert, das die Pariserinnen und Pariser am Gedenktag der unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter anno 1728 in den Tuilerien erlebten: Im Concert spirituel erklang das gewaltige, Trompeten strotzende Te Deum von Michel-Richard Delalande. Orchestrale Pièces de Symphonie leiteten seine Psalmvertonung „Exaltabo Domine“ ein. Der Schneidersohn aus Paris, der zum größten Meister höfischer Kirchenmusik aufstieg, war zwei Jahre zuvor in Versailles verstorben. Doch noch immer bildeten seine Grands Motets das Rückgrat der „geistlichen Konzerte“, die anno 1725 begründet worden waren. Im Rest des Programms driftete die Musik zu den neuen, leichten Tönen des Rokoko ab.

Concert spirituel

Vor 300 Jahren, im März 1725, wurde die bedeutendste Pariser Konzertreihe des 18. Jahrhunderts ins Leben gerufen: das Concert spirituel, das „geistliche Konzert“. Geistlich war es in zweifacher Hinsicht: Die Konzerte fanden an den Hochfesten des Kirchenjahres statt – von Mariä Lichtmess über Mariä Verkündigung, Karwoche, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und Fronleichnam bis Allerheiligen, Unbefleckte Empfängnis und Weihnachten. Diesen Anlässen entsprechend dominierten in den Programmen kurze Oratorien in französischer Sprache und so genannte „Grand Motets“, große lateinische Psalmvertonungen für Soli, Chor und Orchester. Dazwischen aber nahm die Instrumentalmusik einen breiten Raum ein: Sonaten und Solokonzerte, vorgetragen von den Violin- und Flötenvirtuosen der Hauptstadt. Auch Opernarien wurden aufs Programm gesetzt und gewannen im Lauf des Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Diese weltlichen Programmteile boten der neuen, italienisch inspirierten Musik des Rokoko das Einfalltor.

Régence und Rokoko

Nach dem Tode Ludwigs XIV. 1715 hatte sein Neffe Philipp von Orleans die Regentschaft für den noch unmündigen Ludwig XV. übernommen, den Urenkel des Sonnenkönigs. Von seiner Mutter Liselotte von der Pfalz war der „Régent“ weltoffen erzogen worden und überdies der Galanterie stark zugeneigt. Unter ihm kreierten die Pariser Dekorateure einen neuen, eleganten Dekorationsstil, Régence genannt. Zugleich wandten sich immer mehr junge Komponisten den eleganten Tönen aus Italien zu. Als 1725 der junge König Ludwig XV. selbst an die Spitze des Staates trat, waren Vivaldis Concerti längst in Paris zur Mode geworden. Louis Quinze liebte diese Musik, besonders das „Frühlingskonzert“ von Vivaldi, gespielt vom Geiger Jean-Pierre Guignon. Der strenge „grand Goût“, der „große Stil“ aus der Epoche seines Urgroßvaters, überlebte nur noch in den „großen Motetten“ des Concert spirituel, flankiert von immer dominanter werdenden Arien und Concerti aus Italien. 

Michel Blavet, der Meisterflötist aus der Franche-Comté

Die Leitfiguren dieses Stilwechsels waren Jean-Pierre Guignon, der Lieblingsgeiger Ludwigs XV., und Michel Blavet, der größte Traversflötist Europas. Noch Telemann bewunderte bei seinem Besuch in Paris im Advent 1737 die Kunst dieser beiden Virtuosen und komponierte für sie seine Nouveaux Quatuors. Denn besonders die Flûte traversière, die barocke Querflöte, war das Instrument der Stunde, der Klang des neuen galanten Stils: sinnlich zart und schmachtend, aber auch hell und brillant, je nach Register. Keiner spielte sie so wie Blavet: rein und voll, ebenmäßig durch alle Lagen, mal zart und säuselnd, mal kraftvoll auftrumpfend, „mehr einem Contralto als einem Sopran gleichend“. Binnen weniger Jahre wurde der junge Blavet zur europäischen Berühmtheit. Sogar der preußische Kronprinz Friedrich von Preußen versuchte, ihn an seinen Hof zu ziehen, doch der Franzose wusste, was er an Paris hatte und vor allem an seinem Duopartner Guignon. Die beiden waren die Stars des Concert spirituel, wo sie jeden Monat ihre Sonaten und Concerti spielten. 

Flötenkonzert alla Vivaldi

Blavet stammte aus Besançon in der Franche-Comté und war mit einem Adligen aus der Provinz nach Paris gekommen – ganz so wie der große Organist Jean-Philippe Rameau aus Dijon. Früher als die arroganten Pariser öffneten sich die Genies aus der Provinz dem Einfluss Italiens, und so spielte Blavet schon 1728 sein Concert in a-Moll: ein Flötenkonzert im reinsten Vivaldi-Stil und das erste Flötenkonzert eines Franzosen, lange vor François Devienne, Cécile Chaminade oder Jacques Ibert. Die Pariserinnen und Pariser jubelten ihm immer wieder aufs Neue zu, wenn er dieses Virtuosenstück zum Besten gab. Hört man das mitreißende Finale , so wird die Anlehnung an Vivaldi im Streicherthema sofort offenbar. Der Solopart aber ist von solcher Virtuosität, dass Vivaldis eigene Flötenkonzerte dagegen verblassen. Michel Blavet sorgte dafür, dass die Flöte die Domäne der Franzosen wurde und blieb. Seit der Einführung des Instruments bei Hofe durch Michel de la Barre sollte es bis zu den großen Böhmflötisten unserer Zeit so bleiben. Noch der große Jean-Pierre Rampal spielte mit Vorliebe das a-Moll-Konzert von Blavet. 

Weihnachtslieder für Orchester

Weihnachtslieder waren im Adventskonzert am 8. Dezember noch ausgeklammert. Dieses Genre hob man sich für das Concert Spirituel an den Weihnachtsfeiertagen auf. Dort erklangen die berühmten Symphonies de Noëls, orchestrale Arrangements von französischen Weihnachtsliedern, die es an Brillanz und Stimmungsmalerei mit jedem Hollywood-Arrangement von White Christmas aufnehmen können. Wenn eine Nation in Europa den Anspruch darauf erheben darf, das Genre „Weihnachtskonzert“ mit kitischigen Bearbeitungen von Weihnachtsliedern für den Konzertsaal erfunden zu haben, ist es die Französische. In Deutschland, England oder Italien wäre es anno 1728 noch undenkbar gewesen, Weihnachtslieder für zahlendes Publikum im Konzertsaal zu spielen. Das Pariser Publikum erfreute sich an jedem 25. Dezember an diesen klangvollen Bearbeitungen, nebst einer Grand Motet des Rokokomeisters Boismortier, die quasi jährlich wiederholt wurde: Fugit nox. Schon das Publikum des Rokoko hatte seine Weihnachtsklassiker, die es alle Jahre wieder zu hören erwarten durfte.

Zum Hören:

Michel Delalande: Te Deum – Le poème harmonique, Vincent Dumestre

https://www.youtube.com/watch?v=y9Mr0rPzLmI

Michel Blavet: Finale aus dem Flötenkonzert a-Moll – Jed Wentz und dem Ensemble Musica ad Rhenum 

https://www.youtube.com/watch?v=IoMYMvA7i9Y

Michel Corrette: Sechs Orchestersuiten mit Arrangements von Weihnachtsliedern

https://www.youtube.com/watch?v=iBgo2Wn7CvU&list=RDiBgo2Wn7CvU&index=1