Adventskalender Leipzig 3.12.1724
Vor 299 Jahren dirigierte Bach am ersten Adventssonntag in der Leipziger Thomaskirche die Uraufführung seiner Choralkantate „Nun komm der Heiden Heiland“, BWV 62.
Nun komm der Heiden Heiland
von Karl Böhmer
Als der Reformator Martin Luther anno 1524 den Adventshymnus des Hl. Ambrosius „Veni redemptor gentium“ in einen ebenso eingängigen wie knappen Choral verwandelte, schenkte er seinen Gemeinden genau jenes prägnante Adventslied, das die Frömmigkeit der Gläubigen auf das Kommen des Erlösers einstimmte. Wie meinte schon Liselotte von der Pfalz, die katholische Schwägerin des Sonnenkönigs, die in Hannover protestantisch erzogen worden war: „Dr. Luther weiß ich’s recht Dank, hübsche Lieder gemacht zu haben; ich glaube, daß dies vielen Lust geben hat, lutherisch zu werden, denn das hat etwaß Lustigs.“ Prägnanter als in den vier Zeilen von Luthers erster Choralstrophe lässt sich das Geheimnis des bevorstehenden Weihnachtsfestes nicht zusammenfassen:
Nun komm, der Heiden Heiland,
Der Jungfrauen Kind erkannt,
Des sich wundert alle Welt:
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Choralkantaten-Jahrgang
Zum 200. Geburtstag von Luthers Adventschoral dirigierte Bach in der Leipziger Thomaskirche seine Kantate BWV 62 über eben jenes Lied – mit dem Originaltext in den Außenstrophen, umgewandelt in Arien und Rezitative in den Binnenstrophen. Es war seine zweite „Hauptmusik“ über jenen Choral nach der frühen Kantate BWV 61, uraufgeführt zehn Jahre zuvor in Weimar. In Leipzig kleidete Bach die zitierte erste Choralstrophe nicht in die Form einer französischen Ouvertüre zur Eröffnung des Kirchenjahrs, sondern in einen prachtvollen italienischen Konzertsatz.
In Bachs Kantorenwohnung konnten die Leipzigerinnen und Leipziger das gedruckte Textheft für diese Aufführung erwerben, ein regelrechtes „Libretto“. Als sie es an jenem 3. Dezember aufschlugen, lasen sie zu Beginn nicht mehr als die vier wohl vertrauten Choralzeilen. Wie der Herr Musikdirektor den Choral wohl dieses Mal ausdeuten würde? Seit Juni 1724 hatte sich Bach jede Woche ein anderes Kirchenlied vorgenommen und es in eine so genannte „Choralkantate“ verwandelt – mit der ersten Choralstrophe als Eingangschor. Dabei hatte er von allen Varianten der barocken Stilwelt Gebrauch gemacht. Mal hörte die Gemeinde das Hauptlied des jeweiligen Sonntags eigekleidet in eine französische Ouvertüre, mal in eine Orchester-Chaconne, ein Violinkonzert, ein Doppelkonzert für Flöte und Oboe, eine strenge Fuge, eine gewagte kontrapunktische Choralbearbeitung oder einen leichten französischen Tanz. Was würde sich der Herr Musikdirektor wohl für den ersten Advent einfallen lassen?
Doppelkonzert als Eingangschor
Zwei Oboen gehen forsch voran – in h-Moll, einer Lieblingstonart Bachs. Die Oboen preisen in jubelnden Terzen und vitalen Rhythmen die Liebe Gottes, der seinen Sohn in die Welt schicken wird, um die Menschen zu erlösen. Getragen wird dieses Oboenthema nur vom Bassetto der hohen Streicher. Erst zwei Takte später setzen alle Bassinstrumente mit der Melodie der ersten Choralzeile ein – der feierlichste Basseinsatz, den man sich denken kann. Die Streicher lassen dazu rauschende Sechzehntel ertönen – Sinnbild jenes Lichts, das Jesus in die Welt bringt. Nach etlichen Takten italienischen Konzertierens runden die beiden Oboen das Orchestervorspiel ab, indem sie erneut die erste Choralzeile zitieren. Schon Luther hatte in seiner Choralmelodie die erste und letzte Zeile des Textes zur gleichen Musik singen lassen. Also steht auch in Bachs Orchester-Ritornell diese Choralzeile am Anfang und am Schluss. So hatten die Leipzigerinnen und Leipziger das „Nun komm der Heiden Heiland“ schin doppelt im Ohr, noch bevor der Chor einsetzte. In Bachs Autograph kann man sehen, wie sehr er am Orchestervorspiel gefeilt hat, während ihm der Chorsatz fast ohne Korrekturen aus der Feder floss. Die Imitationen eines vierstimmigen Chores niederzuschreiben, war für ihn nur eine Frage der Konzentration. Ein eingängiges italienisches Ritornello zu schreiben, war dagegen eine Frage der „Inventio“, der melodischen Eingebung, an der Bach stets länger zu feilen hatte. Apropos melodischer Einfall: Bevor Bach die zweite Choralzeile im Eingangschor niederschrieb, kam ihm plötzlich der Einfall zur Bassarie der Kantate. In Windeseile, mit leichten, dünnen Federstrichen notierte er unter der Partitur des Eingangschors das Bassthema dieser Arie. Bis er es 30 Seiten weiter hinten ausarbeitete, hatte er es bereits an zwei Stellen melodisch weiterentwickelt … Der Thomaskantor bei der Arbeit.
Tenorarie
Auf das Choralkonzert zu Beginn folgt eine der schönsten Tenorarien, die Bach geschrieben hat: ein Tanzsatz für Orchester im heiteren G-Dur, ein „Passepied“, dessen Melodie der Sänger in schier endlos langen Koloraturen ausschmückt:
Bewundert, o Menschen, dies große Geheimnis, / Der höchste Beherrscher erscheinet der Welt. / Hier werden die Schätze des Himmels entdecket, / Hier wird uns ein göttliches Manna bestellt, / O Wunder! Die Keuschheit wird gar nicht beflecket.
Ein so schweres Stück war sicher nicht für einen siebzehnjährigen Tenor der Thomasschule bestimmt, sondern für einen Profi, wahrscheinlich für den Leipziger Tenor Carl Christian Vetter. Der Sohn des ehemaligen Organisten der Leipziger Nikolaikirche hatte unter Bachs Leitung zwei Jahre lang in der Köthener Hofkapelle gesungen, von August 1718 bis Juli 1720. Danach kehrte Vetter in seine Heimatstadt zurück. Als Bach im Mai 1723 sein Amt als neuer Musikdirektor antrat, muss sich Vetter auf seinen ehemaligen Hofkapellmeister gefreut haben. Wie eng die beiden nun wieder zusammenarbeiteten, kann man daran ablesen, dass sie im Juli 1724 zusammen mit Anna Magdalena Bach zu einem Gastspiel nach Köthen zurückkehrten – wenige Monate vor der Uraufführung der Adventskantate BWV 62. Eines der Köthener Glanzstücke in Vetters Repertoire war die Eingangsarie der fürstlichen Neujahrsmusik zum Jahr 1720, ein Lobpreis Gottes als „Sonne des Lebens“, womit gleichzeitig die fürstliche Sonne gemeint war:
Dich loben die lieblichen Strahlen der Sonne, / O Sonne des Lebens, die alles erfreut. / Dich rühmen die Menschen mit frohem Gemüthe, / O Höchster! der seine vollkommene Güte / In unserer Sonnen des Landes erneut.
Nicht zufällig stimmt dieser Text metrisch mit der Tenorarie aus BWV 62 überein: Wie man an Bachs Partitur sehen kann, hat er sie nicht neu komponiert, sondern als makellose Reinschrift von einer Vorlage abgeschrieben. Der Stil entspricht seinen typischen Köthener Serenaden aus den Jahren 1718 bis 1722, man hat es also mit einer klassischen „Parodie“ zu tun. Bachs unbekannter Textdichter verwandelte die Strahlen der Sonne in das Licht der Welt. Die langen Koloraturen, die anno 1720 die Sonne über Köthen aufgehen ließen, verneigten sich nun vor dem Herrscher der Welt. Man kann sich leicht vorstellen, wie Bach diese Übernahme mit seinem Tenor Vetter abgestimmt hat. Vielleicht hatte sich der Sänger sogar gewünscht, dieses wunderbare Stück, das er in Köthen nur einmal aufführen durfte, in Leipzig als geistliche Arie wieder zu singen.
Bassarie
Auch den zweiten Solisten der Kantate hat Bach mit einer brillanten Arie ausgestattet: den Bassisten Johann Christoph Lipsius. Er war damals gerade als Student an die Leipziger Universität gekommen und entwickelte seine stimmlichen Fähigkeiten unter Bachs Leitung so glänzend, dass er 1727 als Hofmusiker nach Merseburg engagiert wurde. Für ihn hat Bach in der Kantate BWV 62 eine wahre Bravourarie neu komponiert, nicht aus einem früheren Werk übernommen: „Streite, siege, starker Held“. Wie ein Händelscher Opernheld tritt der Bassist im Sturmlauf heroischer Koloraturen auf, während der Basso continuo dazu ein martialisches Motiv ständig wiederholt. So steht es in Bachs Entwursschrift in der Partitur. Dann aber schien ihm das Motiv des Generalbasses zu wuchtig für Cello, Violone und Orgel. Bach gab die Anweisung, dass auch die Geigen und Bratschen den Basso ostinato im Unisono mitspielen sollten. Erst so bekommt die Arie ihren opernjaften Zug: Der Heiland soll als Held für seine Gläubigen streiten und sie im täglichen Lebenskampf stärken:
Streite, siege, starker Held! / Sei vor uns im Fleische kräftig! / Sei geschäftig, / Das Vermögen ins und Schwachen / Stark zu machen.
Blick zur Krippe auf das Licht der Welt
Danach überraschte der Thomaskantor die Gemeinde mit einem Vorgeschmack auf Weihnachten: In einem lieblichen Duett-Rezitativ aus lauter Terzen und Sexten führten zwei Knabenstimmen der Thomasschule die Gläubigen schon einmal an die Krippe – drei Wochen vor Heiligabend:
Wir ehren diese Herrlichkeit / Und nahen nun zu deiner Krippen | Und preisen mit erfreuten Lippen, | Was du uns zubereit'. / Die Dunkelheit verstört' uns nicht / Und sahen dein unendlich Licht.
So hat Bach den Leipzigern in der damals dunklen Buß- und Fastenzeit des Advent einen ersten Blick auf das Licht der Welt geschenkt. Sein Glanz durchzieht die Kantate von den Streicherfiguren des Eingangschors über die hohen Tenorkoloraturen in G-Dur und die prachtvolle Bassarie in D-Dur bis zum Schlusschoral mit seinem emphatischen Lob der Dreifaltigkeit. Derart eingestimmt und innerlich erhoben, konnte die Gemeinde andächtig der einstündigen Predigt lauschen, die an jenem Sonntag vom Thomaspastor Christian Weise gehalten wurde. So mancher Zuhörer mag dabei noch die Melodien der Bachschen Kantate leise nachgesummt haben.
Zum Hören:
Bachs Kantate „Nun komm der Heiden Heiland“, BWV 62 mit den Malaysia Bach Festival Singers and Orchestra in einer Online-Produktion, entstanden während des Lockdowns und unterlegt mit Bildern der Thomaskirche, wo diese Bachkantate am 3. Dezember 1724 zum ersten Mal erklungen ist:
https://www.youtube.com/watch?v=TMdk8CsIcLk