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Antonio Vivaldi, anno 1723 in Rom gezeichnet von Pier Leone Ghezzi. Auf dem Blatt findet sich auch Vivaldis Spitzname Il prete rosso, der rothaarige Priester.

Adventskalender Venedig 9.12.1725

Zweiter Advent 1725 in Venedig: Antonio Vivaldi hat alle Hände voll zu tun - mit seiner neuen Oper, seinen Schülerinnen am Ospedale della Pietà und mit den Vier Jahreszeiten, die gerade im Druck erschienen sind. Winter in der Lagunenstadt.

Winterfreuden in Venedig, 9.12.1725

Man schrieb den 9 Xbre 1725, den zweiten Advent in Venedig, doch Don Antonio Vivaldi hatte keine Zeit für Besinnlichkeit. Der Priester mit den roten Haaren und der markanten Hakennase hätte sich manchmal an den Altar gewünscht wie seine Kollegen, die im Advent dem Tempus clausum frönen konnten. Für einen musizierenden Priester wie ihn war es die hektischste Zeit des Jahres: Die Opernsaison stand bevor, die Stadt war voller Touristen, die Konzerte hören und Concerti kaufen wollten, und im Ospedale musste er unterrichten, ausrichten, verrichten. Wie sollte das gehen? Am Teatro S. Angelo stand die Premiere seiner neuesten Oper unmittelbar bevor, L’inganno trionfante, und noch immer fehlte die letzte Arie für die Primadonna, Signora Posterla. Zuerst musste er sich aber um seine Schülerinnen am Ospedale kümmern. Wie jeden Sonntag würden sie in der Kapelle des Findlingshauses ihr zweistündiges Konzert geben, und wie jeden Sonntag würde die Kirche voller Touristen sein, die unbedingt Vivaldi und sein berühmtes Frauenorchester hören wollten. „Die Musik in den Kirchen bei den 4 Hospitälern, als alla Pietàai Mendicantiall’Ospedaletto, und agl’Incurabili, versäumt man nicht gerne zu hören. Sie wird alle Samstag, Sonn- und Festtage gemacht; fängt an etwa um 4 Uhr Nachmittag, und währet biß ein wenig nach 6 Uhren.“ So konstatierte der Waldecker Höfling Johann Christoph Neimetz im gedruckten Bericht von seiner Italienreise.

Findlingshäuser als Musikhochschulen

Von den vier Findlingshäusern der Stadt war das Ospedale della Pietà nicht nur das größte, sondern auch das berühmteste – dank seines Violinprofessors Vivaldi und der Virtuosinnen auf allen möglichen Instrumenten. Dies wusste auch Neimetz zu berichten: „In diesen 4 Hospitälern werden auf der Republic Kosten arme gebrechliche Leute, wie auch arme Kinder und Findlinge unterhalten, und letztere in der Gottesfurcht, Lesen, Schreiben und sonderlich in der Music unterrichtet, auch zum Spinnen und Nähen angewiesen. Unter denen ist nun das Hospital la Pietà wohl das considerabelste; als worinnen bey die 900 Mädchen versorget und unterhalten werden. Diese Kinder, welche jedoch nicht allemahl Findlinge, sondern je zuweilen aus rechter Ehe, aber von nothdürftigen Eltern gezeugte Kinder sind, als die die Mittel nicht haben, selbige zu ernähren, und sie daher in dem bey dem Hospital an der Wand ausgehauenen Stein zu Nacht-Zeit heimlich hineinschieben, werden nun auf vorbesagte Zeit unterrichtet und ist zu verwundern, dass viele nicht nur in der Vocal- sondern auch in der Instrumental-Music excelliren, und auf der Violin, Violoncello, Orgel, Tiorbe, ja sogar auf der Hautbois und Flöte en maitre spielen. Sonderlich sind dermahlen wegen des Singens daselbst berühmt die Polonia und Gerdrut, ... auf der Hautbois la Susanna, und auf der Violin die Anna Maria, als welche auf diesem so schweren und delicaten Instrumente auch von Virtuosen unseres Geschlechts wenig ihres gleichen hat.“ Das Staunen über die Virtuosinnen von Venedig stand besonders den deutschen Reisenden im Gesicht geschrieben, das wusste Vivaldi nur zu gut. Nördlich der Alpen hatten die Männer in der Musik das Sagen, hier nicht. Umso höher die Ansprüche der jungen Damen.

Concerto per Annamaria

Annamaria, seine berühmteste Schülerin, trat vor: „Prego, Maestro, bitte lasst mich heute das neue Konzert spielen! Concerto per Annamaria!“ Doch Vivaldi war nicht überzeugt. Die Uraufführung am Festtag von San Lorenzo im August hatte Annamaria nicht zu seiner Zufriedenheit absolviert. Nun sollte sie warten. „Nun gut, vielleicht nächsten Sonntag. Heute habe ich andere Pläne! Ein englischer Lord wünscht sich die Quattro Stagioni. Er hat gleich zehn Exemplare der gedruckten Ausgabe gekauft. Sie sind gerade aus Amsterdam frisch eingetroffen. Ich kann ihm den Wunsch nicht abschlagen.“ „Aber Maestro, das Frühlingskonzert im Dezember? Das ergibt doch keinen Sinn!“ „Wir lassen es beim Herbst und Winter bewenden. Das muss ihm genügen, dem Engländer. Ich fürchte, irgendwann wird man nur noch die Vier Jahreszeiten von mir hören wollen, wenn das so weitergeht! Welches Konzert spielst Du lieber?“ „L’Inverno, den Winter.“ „Nun gut, den brauchst Du auch nicht mehr zu üben. Aber denk dran: Der Anfang muss spiccato gespielt werden, ganz trocken, secco, und starr, diese Tonrepetitionen.“ „Aber Maestro, die zweiten Geigen fangen an. Ich komme doch später mit den Trillern dazu.“ „Certo, certo ...“. Doch schon längst war Maestro Vivaldi mit seinen Gedanken abgeschweift.

Palpita il cor e freme

Das war es! Das war genau der Einfall, den er für die Arie seiner neuen Oper noch brauchte: „Palpita il cor e freme“, „Es pocht das Herz und zittert“. Klingt nicht das Pochen des Herzens genau so wie das Schlottern frierender Menschen im Winter? So hatte er sein berühmtes Winterkonzert begonnen: mit stampfenden, ständig wiederholten Tönen, bis in der Solovioline der eisige Nordwind darüber hinwegfegt, die Tramontana. Genauso würde er noch am selben Abend seine Arie schreiben, in Windeseile: lauter pochende, repetierte Achtel, nicht nur für die Streicher, sondern auch für den Sopran. Natürlich würde seine Primadonna protestieren: „Aber Maestro, ich bin doch keine Violine!“ Es würde ihr nichts nützen, denn dieser Einfall zündete, das wusste er genau. Basta! Wenn es ihr nicht passte, konnte sie ja im Da Capo die Tonwiederholungen nach Belieben durch andere Figurationen ersetzen.

Der grausame Winter 1709

Annamaria riss ihn aus seinen Tagträumen: „Maestro! Soll ich nun das Winterkonzert spielen oder nicht? “ „Certo, Annamaria, per favore! Dann kaufe ich dir für nächsten Sonntag eine neue E-Saite, damit dein Concerto noch strahlender klingt.“ „Grazie, Maestro!“ Sie eilte davon. „Wie leichtfertig doch diese jungen Dinger vom Winter reden“, dachte Vivaldi. Sie hatten noch keinen wahren Inverno erlebt. Nur zu gut erinnerte er sich an den grausamen Winter 1709, den fürchterlichsten, den Europa jemals erleiden musste. Die Lagune war für zwei Monate zugefroren, so dass die Wahren auf Schlitten transportiert werden mussten, da keine Schiffe mehr fuhren. Mutige Venezianer übten sich im Schlittschuhlaufen. Ihre Pirouetten und Schwünge, ihre Stürze und ihr zaghaftes Wiederaufstehen hatte er im Finale seines Winterkonzerts eingefangen. Im ersten Satz dagegen malte er die Eiseskälte, die plötzlich am 6. Januar über die Venezianer hereingebrochen war. Schlotternd standen sie in den schmalen Calli der Stadt und auf den Campi und sehnten die Pelzlieferungen vom Balkan herbei, die nie eintrafen. Anfang Februar fing es an zu tauen, und der Regen plätscherte gegen die Scheiben. Diesem idyllischen Bild widmete er den langsamen Satz des Konzerts. Als dann aber die Kälte wiederkam, packte sie so unerbittlich zu wie der brausende Nordwind am Ende seines Finales. Die gesamte Ernte wurde vernichtet, überall in Europa. Es gab kein Getreide, kein Obst, keinen Wein. Die Menschen hungerten, während der Sonnenkönig und der Kaiser weiter ihren sinnlosen Krieg um die spanische Krone führten. Auch deshalb hatte Vivaldi damals sein Winterkonzert geschrieben: Um den Menschen Mut zu machen in einer düsteren Zeit. In seinen Noten klang der Jahrhundertwinter nicht einmal halb so schlimm, wie er in Wirklichkeit war.

Nikolaus in Hamburg

Am dritten Advent desselben Jahres konnte Vivaldi zufrieden sein: Annamaria hatte endlich „ihr“ Konzert mit den besonders schweren Passagen meisterhaft vorgetragen. Und sein Inganno trionfante hatte den Venezianern gefallen, vor allem die Arie mit den repetierten Noten. Es sollte nicht einmal ein Jahr dauern, bis sie ihren Weg aus Venedig ins ferne Hamburg fand: Am Nikolaustag 1726 konnten die Hanseaten in ihrer Zeitung eine Voranzeige für ein Konzert der Sopranistin Maria Domenica Polone lesen. Im Opernhaus am Gänsemarkt führte sie die Serenata Die gekrönte Beständigkeit auf. Die Musik stammte laut Zeitungsmeldung von „dem Welt-bekannten Italienischen Virtuosen Signor Vivaldi“. Tatsächlich enthielt das Werk diverse Arien aus dem Inganno trionfante vom Vorjahr, darunter auch „Palpita il cor e freme“, die Arie mit den „zitternden“ Achteln.

Zum Hören:

Die Arie „Palpita il cor e freme“ aus L’Inganno trionfante (Advent 1725) mit Ann Hallenberg und Modo Antiquo unter Federico Maria Sardelli:

https://www.youtube.com/watch?v=8ARgPfzVzKU

Das Finale aus dem Concerto per la Sig. Anna Maria, auch Concerto per la Solennità di S. Lorenzo genannt, RV 286, mit Giuliano Carmignola und den Sonatori della gioiosa Marca.

https://www.youtube.com/watch?v=PkUDwax0G3s

Vivaldis Concerto L’inverno aus den Quattro Stagioni mit unterlegten Gedichtzeilen zum besseren Verständnis der Tonmalereien: Cynthia Freivogel (Solovioline), Voices of Music:

https://www.youtube.com/watch?v=ZPdk5GaIDjo