Mozart im Alter von 14 Jahren, gemalt im Januar 1770 in Verona von einem Maler namens Cignaroli (vermutlich Gianbettino). Aufgrund dieses authentischen Portraits weiß man, dass Mozart blaue Augen hatte.

Mozart in Mailand, 1.12.1770

Im Advent 1770 hatte der vierzehnjährige Mozart in Mailand wenig Zeit für Besinnlichkeit: Er komponierte seine erste Opera seria Mitridate re di Ponto.

Mozart schreibt einen Adventsbrief

von Karl Böhmer

Am 1. Dezember 1770, dem Samstag vor dem ersten Advent, schrieb der vierzehnjährige Mozart aus Mailand ein paar Zeilen an seine Schwester Nannerl in Salzburg: „liebste schwester, weil Ich so lang nicht geschrieben habe, so habe ich gedacht deinen verdrus oder verschmahe zu besänftigen mit gegenwärtigen zeilen […] Nun habe ich viel zu schreiben und zu arbeiten an meiner opera, Ich hoffe es wird alles gut gehen mit der hülf gottes. Addio. lebe wohl. Ich bin wie allzeit dein getreüer bruder wolfgang Mozart manu propria.P: S: küsse der mama anstat meiner die hände, an alle gute freünde und freündinen meine Empfehlung.“ 

Nur kurz unterbrach der Vierzehnjährige die Arbeit an seiner Mailänder Karnevalsoper Mitridate re di Ponto. Es sollte sein erster großer Geniestreich für Italiens Opernbühnen werden, eine große, dreiaktige Opera seria für einige der besten Stimmen des Landes. Vor den Erfolg aber hatte das italienische Opernsystem Intrigen und Scherereien ohne Ende gesetzt. Ärgerlich schrieb Leopold Mozart im selben Brief an seine Frau: „Du glaubst die opera ist schon fertig. du irrest dich sehr. wenn es an unserm Sohne gelegen wäre, so würden 2 opern fertig seÿn.“ Das späte Eintreffen der Sänger und Intrigen behinderten den Fortgang der Arbeit. Derweil hatte Vater Mozart noch ganz andere Sorgen mit seinem Sohn: Nach dem Stimmbruch vermisste Wolfgang seine schöne Sopranstimme, und er wuchs in Italien so rasant, dass ihm alle aus Salzburg mitgebrachten Hemden zu klein wurden …

Eine Oper für Mailand

Nach fast einem Jahr in Italien waren Vater und Sohn Mozart mit den angenehmen Seiten des Landes ebenso vertraut wie mit dem Schlendrian und dem Chaos: „in Italien gehet es ganz närrisch zu, und du wirst alles seiner Zeit hören,“ schrieb Leopold seiner Frau im bewussten Adventsbrief. „es wäre zu weitläuftig alles hier zu schreiben. da ich dieses schreibe, ist der Primo uomo noch nicht hier. heut soll er gewiß ankommen.“ Dass der erste Kastrat der Oper gut drei Wochen vor der Premiere noch auf sich warten ließ, war selbst für italienische Verhältnisse eine Schlamperei. Der Primadonna versuchten die Italiener derweil einzureden, dass ein vierzehnjähriger Deutscher keine italienischen Arien schreiben könne, doch Antonia Bernasconi war selbst eine Schwäbin, die nur den italienischen Namen ihres Ziehvaters angenommen hatte. Sie hielt ihrem kleinen Landsmann aus Salzburg die Treue, dafür wurde sie von Mozart mit seiner ersten großen Primadonnen-Partie belohnt: der Aspasia. Die große Szene, die ihr der Vierzehnjährige im dritten Akt auf den Leib schrieb, war ganz im Gluckschen Stile gehalten, denn zwei Jahre zuvor hatte Mozart die Sängerin in ihrer Paraderolle als Alceste in Glucks berühmter Oper in Wien gesehen. Nun machte der jugendliche Mozart dem großen Gluck auf seinem eigenen Terrain Konkurrenz. In Aspasias aufgewühlter g-Moll-Arie „In sen mi palpita“ eiferte Mozart dagegen seinem Idol Johann Christian Bach nach.

Adventsduett in Quinten

Auch ein wunderschönes Duett gehört zur Partie der Aspasia: ein großes „Duetto formale“ mit ihrem unglücklichen Liebhaber Sifare voller süßer Terzen und Sexten. Ein Duett in ganz anderen Intervallen hörten die beiden Salzburger kurz vor dem ersten Advent auf Mailands Straßen: „gestern, da wir aus dem hause giengen, haben wir etwas gehört, was euch unglaublich scheinen wird, und Das ich nicht geglaubt hätte in Italien NB: zu hören. nämlich wir hörten zweÿ arme, nämlich einen Mann und ein Weib, auf der Strasse mit einander singen. und sie sangen ihr ganzes Lied mit einander in quinten, so daß keine Note fehlte. das habe in teutschland nicht gehört. in der ferne glaubte ich es wären 2 Personen, deren iedes ein besonderes Lied sang. da wir näher kammen, sahen wir daß ein schönes Duetto ware in puren quinten . Ich dachte augenblicklich an herrn Wenzel seelig, wenn diese 2 armen Leute auf seinem grabe singeten, so stünde er unfehlbar vom Todte auf.“ Ob es sich um ein Adventslied handelte, das die Mailänder Straßenmusikanten zum Besten gaben?

Mozarts Kastratenfreund Giuseppe Cicognani

Weil der erste Kastrat der Oper Anfang Dezember noch nicht eingetroffen war, schrieb der kleine Mozart zuerst die Arien für den zweiten Kastraten in der Rolle des Farnace – seine einzige große Opernrolle für eine Altstimme. Giuseppe Cicognani aus Cesena in der Romagna war ein Altkastrat mit großer Bühnenerfahrung. Bereits 1748 hatte er seine Karriere begonnen, wohl als Fünfzehnjähriger wie üblich. Als er 1764 zum ersten Mal am Teatro Regio in Turin auftrat, meinten Kenner, man habe dort noch nie einen so exzellenten „secondo uomo“ gehört. Mozart wusste den Sänger zu schätzen, seit er ihn am 20. Januar 1770 im Teatro Nazari zu Cremona gesehen hatte: als Sesto in La clemenza di Tito von Giovanni Valentini. Damals schrieb Wolfgang an seine Schwester: „primo huomo. Musico cichognani. eine hübsche stime, und ein schönes Cantable.“ Wenig später trafen sich die beiden in Mailand wieder. Am 26. März traten sie zusammen in Bologna in einer Akademie auf, das vierzehnjährige Wunderkind und der Altkastrat von Mitte Dreißig. Im folgenden Sommer schließlich wurde Cicognani zum „sehr guten Freund“ der Mozarts, als Vater und Sohn mehrere Monate in Bologna zubrachten. Cicognani war ein Schützling des berühmten Padre Martini. Wenn der kleine Mozart den großen Musiktheoretiker im Franziskanerkloster von Bologna aufsuchte, wird er des Öfteren auch den Altkastraten angetroffen haben, der mit besonderer Hingabe die berühmten Kammerduette von Padre Martini sang.

Als sich die beiden Ende November in Mailand wiedertrafen, war es ein freudiges Wiedersehen. Im Advent 1770 studierten sie die dramatischen Arien ein, die Mozart für den verräterischen Sohn Farnace im Mitridate komponiert hat. Am Ende der Oper, wenn die Reue den verlorenen Sohn zum Edelmut bekehrt, durfte Cicognani sein „schönes Cantabile“ in einer hinreißenden Andante-Arie zur Geltung bringen: „Già dagl’occhi il velo è tolto“. „Schon ist der Schleier von den Augen genommen.“ Kein Countertenor hat sie schöner gesungen als Jochen Kowalski 1993 an Covent Garden.

Zum Hören:

Scena ed Aria des Farnace aus dem dritten Akt von Mitridate re di Ponto:

https://www.youtube.com/watch?v=wE2cqW_dN-M

Jochen Kowalski, Altcounter; Akademie für Alte Musik Berlin; René Jacobs

Aria der Aspasia aus dem ersten Akt „In sen mi palpita“

https://www.youtube.com/watch?v=nKfH_WuG5Rk

Julie Fuchs, Sopran; Musiciens du Louvre; Mark Minkowski