Sankt Sebald in Nürnberg zur Weihnachtszeit mit dem Sebaldusgrab von Peter Vischer (Foto: Wikipedia).

Weihnachten in Nürnberg 1695

Vesper in Mittelfranken und Even Song in Worcestershire: Ein Magnificat des Nürnbergers Johann Pachelbel, das seinen Weg ins englische Tenbury fand. 

Weihnachten in Nürnberg und Tenbury

von Karl Böhmer

Zwischen Tenbury Wells in der englischen Grafschaft Worcestershire und Nürnberg liegen mehr als 1200 Kilometer und doch fanden die prachtvollsten Werke lutherischer Kirchenmusik aus dem Mittelfranken des Barock ihren Weg ausgerechnet ins St. Michael’s College zu Tenbury. Wie es dazu kam und was es an beiden Orten zu Weihnachten Musikalisches zu hören gab, ist der Gegenstand unseres heutigen Kalenderblatts. 

Barocke Vespern in der Sebalduskirche

Wer heutzutage vom Nürnberger Christkindlmarkt seinen Weg in die wunderbare Kirche Sankt Sebald findet, wird dort von einem der schönsten gotischen Kirchenräume Deutschlands empfangen und mit Ausstattungsstücken von höchster Qualität belohnt. Das Sebaldusgrab von Peter Vischer, die Volckamersche Gedächtnisstiftung von Veit Stoß, die Patrizier-Epitaphien – sie alle befanden sich schon an Ort und Stelle, als der Nürnberger Johann Pachelbel 1695 in seine Vaterstadt zurückkehrte, um Organist an Sankt Sebald zu werden. Dort entfaltete er nicht nur seine viel gerühmte Orgelkunst, sondern schrieb auch prachtvolle figurierte Kirchenmusik, darunter allein elf Vertonungen des lateinischen Magnificat. Bis zu seinem allzu frühen Tod 1706 machte er Sebald zu einem Zentrum der Kirchenmusik und verwöhnte die Nürnberger daneben auch mit Kammermusik wie den sechs Suiten seiner Musikalischen Ergötzung von 1695. Ob auch sein berühmtestes Werk, Kanon und Gigue für drei Violinen und Bass, der Nürnberger Zeit entstammt, lässt sich aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht mehr feststellen.

Die Tradition lateinischer Magnificat-Vertonungen brachte Pachelbel von seinen früheren Wirkungsstätten mit nach Mittelfranken: aus dem Stephansdom in Wien, der Predigerkirche in Erfurt und der Stadtkirche in Gotha. Entsprechend prachtvoll, ja beinahe schon katholisch muten diese Werke an. Jeweils eingeleitet von einer seiner Orgelfugen über das Magnificat, dirigierte er seine Vertonungen des Lobgesangs Mariens in der Vesper zu Sankt Sebald. An Weihnachten fiel die Besetzung besonders prachtvoll aus, wie sein zwölfminütiges Magnificat in C mit zwei Trompeten und Streichern belegt. Erschlossen wurde dieser lange verborgene Schatz durch den Fürther Musikwissenschaftler Wolfgang Hirschmann, Ordinarius in Halle. Er hat die Editionen für die Ersteinspielung durch die „Himlische Cantorey“ vorbereitet, aus der unten ein Ausschnitt zu hören ist – als klingender Beleg für die Klangpracht und die innige Wortausdeutung, die sich um 1700 im gotischen Kirchenraum von Sankt Sebald entfaltete.

Even Song in Tenbury

Auch das St. Michael’s College in Tenbury hatte seine ausgeprägte Tradition geistlicher Gesänge am Nachmittag: den Even Song. Die Eliteschule wurde 1856 als Hort anglikanischer Kirchenmusik gegründet – weit weg von London und seinem „schädlichen“ Einfluss. Täglich hatten die Chorknaben im Gottesdienst zu singen und konnten dafür auf mehr als 150 Vertonungen des Even Song zurückgreifen. Berühmt waren sie auch für ihre anrührende Interpretation englischer Christmas Carols zur Weihnachtszeit, bis das College 1985 wegen finanzieller Schwierigkeiten seine Pforten schließen musste. 

Der Dichter John Betjeman erinnerte sich an die einzigartige Atmosphäre im St. Michael’s College: „Meinen ersten Eindruck von diesem Ort werde ich nie vergessen: der Aufstieg von der kleinen Marktstadt Tenbury, dann das riesige Gelände und in der hintersten Ecke, in einer Landschaft voller blühender Obstgärten, die Kapelle, im Stil des 14. Jahrhunderts, neu interpretiert durch den Architekten Henry Woodyer. Nach dem Even Song, wo die Musik den besten Kathedralchören ebenbürtig war, ein Rundgang durch die Gebäude in der Stille eines Worcestershire-Abends, während die Sterne durch die schmalen gotischen Fenster im Giebeldach leuchteten …“.

Welche musikalischen Schätze in der Bibliothek von Tenbury lagerten, war den Lehrern und den „Choristers“ durchaus bewusst, aber Vieles davon war für den anglikanischen Gottesdienst nicht zu gebrauchen. Das galt besonders für jene elf Magnificat-Vertonungen von Pachelbel, die auf verschlungenen Pfaden hierher gelangt waren. Wolfgang Hirschmann hat diesen Weg rekonstruiert: Als Pachelbels Sohn Theophilus um 1730 nach Amerika auswanderte, um sich in Boston als Organist niederzulassen, wählte er offenbar die Route über England. Dort verkaufte er die wertvolle Sammlung der Werke seines Vaters an den Organisten William Boyce, aus dessen Nachlass sie sehr viel später nach Tenbury gelangte. Dort ruhten die Bände unversehrt und der Nachwelt unbekannt, bis sie in die Bodleian Library in Oxford transferiert und endlich der Forschung zugänglich gemacht wurden. Fränkischer Barock, der im England der Midlands die Zeiten überdauerte – fast schon eine weihnachtliche Wundergeschichte.

Zum Hören: 

Johann Pachelbel: Magnficat in C, PWV 1504, Himlische Kantorey, Jan Kobow

https://www.youtube.com/watch?v=NGH0P1zQkUE

Johann Pachelbel: Kanon und Gigue, Musica Antiqua Köln

https://www.youtube.com/watch?v=8Him18evsyc

Away in a manger (W. Kirkpatrick): St Michael’s Tenbury 1963 (Lucian Nethsingha)

https://www.youtube.com/watch?v=gZPVKG303yc

A Worcestershire Carol: Choir of St. Michael’s College Tenbury (1978)

https://www.youtube.com/watch?v=dvZSRiJoCdg&t=6s