Die Pariser Kirche Saint-Paul-Saint-Louis, im Barock die Hauptkirche der Jesuiten in der Seine-Metropole.

Heiligabend in Paris 1692

An Heiligabend 1692 hob Marc-Antoine Charpentier in der Jesuitenkirche zu Paris eine ganz besondere Christmette aus der Taufe: eine Messe über französische Weihnachtslieder.

Messe de Minuit bei den Jesuiten

Überfüllt war die riesige Kirche der Jesuiten in der Rue Saint-Antoine, das Altarretabel mit den berühmten Gemälden hell erleuchtet, die Erwartung groß, während der Organist die ersten Noëls spielte, Bearbeitungen französischer Weihnachtslieder. Was würde Kapellmeister Charpentier in dieser Heiligen Nacht seinen Gläubigen offerieren? Würde es ein lateinisches Weihnachtsoratorium sein wie schon so oft? Oder ein neuer Dialog zwischen den Hirten von Bethlehem in französischer Sprache? Oder gar ein Te Deum wie jenes, das er zum glorreichen Sieg der französischen Waffen bei Steinkerk komponiert hatte? Plötzlich, beim Kyrie, horchten alle auf: „Aber das ist doch Joseph est bien marié, das Weihnachtslied, verwandelt in ein Kyrie!“ Im „Christe eleison“ erkannte die Gemeinde ein anderes Weihnachtslied wieder: Or nous dites Marie, im zweiten Kyrie das berühmteste von allen: Une jeune pucelle. Insgesamt elf Weihnachtslieder hatte der große Charpentier in seiner Mitternachtsmesse von 1692 verarbeitet, der Messe de Minuit. Beschwingt gingen die Pariser nach dieser Christmette nachhause, mit allen schönen Liedern im Ohr – die einen in ihre prachtvollen Palais, die anderen in ihre ärmlichen Häuser. Doch der Glanz der Musik hatte sie alle gleichermaßen erleuchtet und verklärt.

Lebendig begraben im Hôtel de Guise

Für Charpentier war er eine späte Genugtuung, jener hundertfache stille Beifall, den ihm die Gläubigen in der Kirche Saint-Louis zollten, seit ihn die Jesuiten zu ihrem Kapellmeister ernannt hatten. Jahrzehnte lang hatte er sich und seine Kunst im alten Hôtel de Guise vergraben, der Trutzburg der Familie Guise mitten im Marais, der Altstadt von Paris. Noch heute erhebt sich neben dem Nationalarchiv der Republik Frankreich im Hôtel de Soubise ein imposantes mittelalterliches Tor mit zwei Türmen: der letzte Rest des Hôtel de Guise. Tagtäglich passierte Charpentier dieses Tor, um in die diversen Kirchen der Umgebung auszuschweifen. Seine Dienstherrin nämlich, die ebenso reiche wie fromme Mademoiselle de Guise, hatte den jungen Komponisten nach seiner Rückkehr aus Rom aufgenommen, damit er für ihr kleines, aber erlesenes Ensemble von Sängern und Instrumentalisten geistliche Musik komponierte. Deren Aufführungen stiftete sie den Klosterkirchen von Paris, was sowohl ein Akt der Frömmigkeit als auch der Politik war, denn Mademoiselle war bei Hofe nicht gelitten. Weil ihre Vorfahren im „Krieg der drei Heinriche“ den Großvater des Sonnenkönigs bis aufs Blut bekämpft hatten, zollte ihr Louis XIV. zwar den ehrenvollen Respekt, den man einer Dame von höchstem Stand schuldete, aber keine Liebe und schon gar keine Einladung an den Hof. Die Guises und die Bourbons waren Erzfeinde, das wusste auch Mademoiselle. Also war sie mit ihrem Kapellmeister lebendig begraben. 

Die vergessenen Notenhefte des Marc-Antoine

Während seiner Jahrzehnte im Hotel de Guise füllte Charpentier Heft um Heft mit den Partituren seiner geistlichen Werke. Diese Cahiers, durchnummeriert von Nr. 1 bis Nr. 75, jeweils im Umfang von 150 bis 200 Seiten, bilden noch heute die wichtigste Quelle seiner Kirchenmusik. Sein erstes Cahier begann der junge Charpentier in der Karwoche 1670 mit einer Serie von Leçons de ténèbres, das 75. und letzte schloss er im November 1702 mit dem Eintrag seiner geistlichen Historie Judicium Salomonis. Eineinhalb Jahre später starb er und hinterließ seinen Zeitgenossen ein geistliches Werk von solchem Umfang und von solcher tief gefühlten barocken Gläubigkeit, dass es schon im galanten 18. Jahrhundert kaum noch Beachtung fand. Nur Kenner raunten einander zu, wie großartig die vergessenen Schätze des berühmten Charpentier seien, ansonsten breiteten das Rokoko und die große Revolution einen Mantel des Schweigens über ihn und seine Werke aus. 

Wiederentdeckung per Eurovision

Erst 250 Jahre nach seinem Tod wurde dieser Bann gebrochen: Als die europäischen Rundfunkanstalten 1954 in Genf die Eurovision gründeten, wählten sie als „Fanfare“ zur Einleitung zukünftiger Eurovisionssendungen ein Orchesterstück von Charpentier aus: das Prélude zu seinem prachtvollsten Te Deum. Diese Melodie kennt heute fast jeder Europäer, ein stolzer Marsch mit Pauken und Trompeten im Rhythmus einer Bourrée. So eingängig das Thema ist, so untypisch ist es für Charpentier, denn trotz allen Glanzes seiner prachtvollsten Kirchenwerke und trotz des funkensprühenden Humors seiner Schauspielmusiken für Molière war seine eigentliche Domäne der dissonanzenreiche Gesang in Moll. Diesen legte er, kommentiert von zarten Geigen- und Flötenstimmen, in seine Kirchenwerke hinein, in seine geistlichen „Historien“ und in seine einzige Oper, die große, düstere Médée

Expressive Tiefe

Nicht wenige Zeitgenossen waren irritiert über die expressive Tiefe in Charpentiers Musik, zumal man sie mit seinen Studienjahren in Rom in Verbindung brachte. In den 1660er Jahren hatte er bei Giacomo Carissimi studiert, dem Meister des lateinischen Oratoriums und der expressiven Kirchenmusik. Als er nach Paris zurückkehrte und auch dort begann, die Worte lateinischer Texte in römischen Dissonanzgeheimnissen auszuloten, waren die Höflinge des Sonnenkönigs irritiert. „Die Verbindung zu Italien in seiner Jugend wurde von allzu puristischen Franzosen verurteilt – oder besser gesagt von solchen, die auf die Qualität seiner Musik eifersüchtig waren“ (Sébastien de Brossard, 1724).  Italienisch süß sind dagegen die Weihnachtspastoralen von Charpentier, die in seiner Messe de Minuit über Weihnachtslieder gipfeln. Dem Hirtenklang dieser Christmette mit ihren Flöten und Geigen entsprechen die instrumentalen Noëls, die er hinterlassen hat – Weihnachtslieder im Orchesterarrangement lange vor den Christmas Alben unserer Zeit.

Zum Hören:

Marc-Antoine Charpentier: Messe de Minuit (Mitternachtsmesse für Heiligabend), Musiciens du Louvre, Marc Minkowksi

https://www.youtube.com/watch?v=TOLXb8DwYD4

Noëls pour les Instruments, Ensemble Marguerite Louise, Gaétan Jarry, Rom, Palazzo Farnese, Dezember 2016

https://www.youtube.com/watch?v=CBSHNpCojEs