Caravaggio, Anbetung der Hirten (Messina, 1609)

Heiligabend bei den Hirten

Seit die Hirten auf den Feldern von Bethlehem die frohe Botschaft von der Geburt des Erlösers empfingen, gehört Hirtenmusik fest zum Klang der Heiligen Nacht. 

Die Hirten von Bethlehem

„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf den Feldern, die hüteten des Nachts ihre Herden. Und siehe, des Herren Engel trat zu ihnen und die Klarheit des Herrn leuchtet’ um sie, und sie fürchteten sich sehr. Aber der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!“ Seit die Weihnachtsgeschichte in ihrer klassischen Form Bestandteil des Lukas-Evangeliums wurde, verkündet jedes Jahr aufs Neue der Engel den Hirten von Bethlehem die Geburt des Erlösers. Einfache Schaf- und Ziegenhirten waren es, denen die frohe Botschaft zuerst zuteil wurde. Sie waren als erste im Stall bei der Krippe, und sie waren die ersten, die voller Weihnachtsfreude weitergaben, „was sie gesehen und gehört hatten“. Deshalb dürfen Hirten mit ihren Volksinstrumenten in keiner Krippe fehlen, und deshalb wurde die Pastorale zum festen Bestandteil der weihnachtlichen Festmusiken – vom römischen Barock bis in die französische Romantik.

Römische Pastorale anno 1701

Arcangelo Corelli war bei weitem nicht der erste römische Komponist, der die Klänge der „Zampognari“ in edle weihnachtliche Streichermusik verwandelte. Wenn alljährlich im Advent die Hirtenmusikanten aus den Abruzzen an den Tiber kamen, um vor den Madonelle, den Madonnenbildern der Ewigen Stadt, zu musizieren, trieben sie mit dem Lärm ihrer Schalmeien und Dudelsäcke so manchen Zeitgenossen in die Verzweiflung. Auch römische Fürsten und Kurienkardinäle hörten statt Piffero und Zampogna lieber edle Streichinstrumente, die jene lauten und rustikalen Hirtenweisen in zarte Wiegenlieder für das Jesuskind verwandelten. Schon 1701, zwölf Jahre vor Corellis „Weihnachtskonzert“, publizierte dessen jüngerer Konkurrent Giuseppe Valentini in seinem Opus 1 eine Sinfonia XII Per il Santissimo Natale. In fünf kurzen Sätzen erzählt das Werk die Ereignisse der Heiligen Nacht: Am Anfang verkündet der Engel in feierlichen Akkorden die Weihnachtsbotschaft. Er trifft auf den Feldern die Hirten an, die ihre Musik im Stil der „Zampognari“ spielen. Ihren freudigen Aufbruch zur Krippe spiegelt ein kraftvolles Allegro wider. Im Stall finden sie das Kind, in Winden gewickelt und in der Krippe liegen, wie es der Engel gesagt hatte. Sie spielen ihm ein sanftes Wiegenlied auf Dudelsäcken und Schalmeien. Am Ende kehren sie um und „preisen Gott mit lauter Stimme für alles, was sie gesehen und gehört hatten“.  

Giuseppe Valentini: Sinfonia XII Per il Santissimo Natale (Rom 1701), Cappella Gabetta

https://www.youtube.com/watch?v=dXzA6z4582s

 

Wiener Kindelwiegen anno 1708

Am 10. Januar 1708 konnte man im „Wiennerischen Diarium“ von einer rührenden Szene bei den Jesuiten lesen: „Montag / den 9. Jenner. Heute / Nachmittags / haben Sich Ihrer Regierenden Kayserl. Majestäten beede Durchleuchtigste Ertz-Herzoginnen ... das erstemahl in die Kirchen des Kayserl. Profeß-Hauß derer WW. EE. PP. S. J. verfüget / und daselbsten das Jährlich-gewöhnliche auffgerichtete Krippel besichtiget; währender welcher Besichtigung dasselbe verschiedentlich beweget / und die Trompeten und Paucken / sodann die Trommeln und Pfeiffen / wie auch ein anmuthiges Hirten-Lied gehöret worden.“ Drei Tage nach Dreikönig 1708 absolvierten die beiden kleinen Töchter Kaiser Josephs I. im Profeßhaus der Jesuiten zu Wien ein ganzes Bündel an barocken Weihnachtsbräuchen: Das „Jährlich-gewöhnliche auffgerichtete Krippel“ wurde nicht nur besichtigt, es wurde auch „verschiedentlich bewegt“. Zu diesem „Kindelwiegen“ erklang eine festliche Musik zuerst von Pauken und Trompeten, dann von Trommeln und Flöten nebst einem „anmuthigen Hirten-Lied“. Nach dem kaiserlichen Trompetenklang wandte sich die Musik also den Pastoralklängen der Hirtenflöten zu. Später versüßte eine „liebliche Tafel-Music von allerhand Instrumenten“ den beiden Erzherzoginnen das Mittagsmahl. Einen guten Eindruck von der weihnachtlichen Wiener Hirtenmusik jener Epoche vermittelt die Pastoralsonate des damaligen Hofkomponisten Johann Joseph Fux. Als Bauernsohn aus der Steiermark wusste er nur zu gut, welche Klänge die Schäfer auf ihren Instrumenten hervorbrachten.

Johann Joseph Fux: Pastoralsonate in A

https://www.youtube.com/watch?v=Rlrrxo2q2F0

 

Leipziger Wiegenlied anno 1728

Vier große Kantaten zum ersten Weihnachtsfeiertag sind von Johann Sebastian Bach erhalten: BWV 163, 91, 110 und der erste Teil des Weihnachtsoratoriums, „Jauchzet, frohlocket“, BWV 248,I. Eine weitere Weihnachtskantate ist dagegen nur als Fragment überliefert: In der Morgan Library zu New York liegt ein relativ stark beschädigtes Manuskript mit einer halben Altarie, Rezitativ und Arie für Bass und einem Schlusschoral. Sie gehören zur Kantate „Ehre sei Gott in der Höhe“, die Bachs Textdichter Picander im Rahmen eines kompletten Kantatenjahrgangs dem Thomaskantor anbot. Noch ist unklar, ob Bach diesen „Picander-Jahrgang“ tatsächlich selbst vollständig vertont hat, zum ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1728 oder 1729 aber dirigierte er jene fragmentarisch erhaltene Kantate, deren prachtvoller Eingangschor leider verschollen ist. Die beiden Arien hat Bach dagegen später für seine Trauungskantate BWV 197 umgeschrieben. Deshalb lässt sich die nur halb erhaltene Hirtenarie des Alts vollständig rekonstruieren. Es ist eine der schönsten Weihnachts-Pastoralen, die Bach geschrieben hat:  

O du angenehmer Schatz,
Hebe dich aus denen Krippen;
Nimm dafür auf meinen Lippen
Und in meinem Herzen Platz.

In diesem Fall stimmen zwei Traversflöten ihre Hirtenmelodien an – in säuselnden Terzen und Sexten über einem sehr bewegten Basso continuo. Der Alt greift die wiegende Melodie auf, allerdings im geraden Takt. Erst die Bassarie steht im wiegenden Rhythmus der Weihnachtspastorale und wird von einer Oboe d'amore als Hirtenschalmei begleitet. 

Johann Sebastian Bach: Fragmentarische Weihnachtskantate BWV 197a, Damien Guillon, Altus; Peter Koooj, Bass; Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki

https://www.youtube.com/watch?v=t8WBINP8gSw

 

„Hirten und Magier“ in Paris anno 1895

Wenn die Pariser der Belle Époque in der Adventszeit die Musikzeitschrift Le Ménestrel aufschlugen, konnten sie regelmäßig riesige Anzeigen des Verlags Heugel für Noëls lesen, für Notendrucke mit Weihnachtsmusiken – teils instrumental, teils vokal, teils knappe Einzelnummern, teils große Werke: Der Bogen reichte vom „Weihnachtschor“ für Kinderstimmen von Widor über Liszts La nuit de Noël für Tenor, Frauenchor und Orgel bis hin zur großen Pastorale de Noël von Reynaldo Hahn, dem zeitweiligen Lebensgefährten von Marcel Proust – ein Mysterienspiel des 15. Jahrhunderts in vier Bildern. 

Auf der instrumentalen Seite fallen Werke ins Auge, die Harfe und Orgel mit Melodieinstrumenten kombinieren. Das schönste dieser Noëls ist Bergers et Mages von Samuel Alexandre Rousseau (1853-1904). Der Sohn eines Harmonium-Bauers aus Paris wurde am Conservatoire Orgelschüler von César Franck und als Kapellmeister an der Kirche Sainte-Clotilde dessen Mitstreiter. Heute ist sogar der Platz vor der Kirche nach ihm benannt. Um 1895 schuf er (nicht etwa sein Sohn Marcel Samuel-Rousseau) jene „Meditation über ein altes Weihnachtslied“ für Solo-Oboe und Solovioline, begleitet von Harfe und Orgel mit Kontrabass ad libitum. Wie der Titel Bergers et Mages suggeriert, handelt es sich um eine anrührende Gegenüberstellung der Hirten von Bethlehem in der Oboe und der Weisen aus dem Morgenland in der Solovioline. Die rustikale Melodie der Oboe in d-Moll wird von der Orgel begleitet, während das leuchtende, hohe Geigensolo in G-Dur von der Harfe grundiert wird: hier die Hirten in der Nacht von Bethlehem, dort die Weisen aus dem Morgenland, die dem hellen Stern folgen. Am Ende kommen alle vier oder fünf Instrumente zusammen, um die Weihnachtsstimmung bis zu einem großen, sentimentalen Höhepunkt zu steigern, bevor das Stück leise ausklingt. 

Bergers et Mages ist ein Musterbeispiel für ein heute fast vergessenes Genre: die Méditations und Andanti religiosi, die Pariser Organisten der Belle Époque als rührende „Kammermusik“ für den Gottesdienst mit Harfe und Orgel komponierten. Wie gut das funktioniert und wie groß der Effekt dieser fast kitschigen Genrestücke ist, konnten der Mainzer Domorganist Max Beckmann, die Geigerin Tjangwa Yang und eine Harfenstiipendiatin der Villa Musica im Sommer 2022 beweisen, als sie vor den Chagall-Fenstern der Mainzer Stephanskirche Méditation-Prière von Théodore Dubois aufführten. Wie wäre es einmal mit einem Weihnachtskonzert, das den ganzen reichen Bogen der französischen Noëls spannt – vom Barock bis zu Rousseaus schönem Bergers et Mages?

Samuel Alexandre Rousseau: Bergers et Mages, op. 75

https://www.youtube.com/watch?v=BL1CJsVqJGg