Eine junge Shopperin, fest im Griff von Santa Claus. Cover des amerikanischen Satire Magazins Puck, gegründet vom Wiener Joseph Keppler, Weihnachtsausgabe 1905, gezeichnet von Carl Hassmann (Library of Congress / Wikipedia).

Nikolaus gegen Santa Claus, 5.12.

Ein echter Nikolaus oder doch nur ein Schoko-Santa? Eine Frage, die vor dem 6.12. nicht nur Kinder bewegt. Wie Santa Claus seine Herrschaft über das Christmas Shopping antrat, erzählt der Song Silver Bells von 1950.

Nikolaus gegen Santa Claus

von Karl Böhmer

Die Wahrscheinlichkeit, dass deutsche Kinder, wenn sie heute Nacht ihre Schuhe vor die Tür stellen, morgen einen Schokoladen-Nikolaus darin finden werden, ist denkbar gering. In der Nacht vor seinem Gedenktag, dem 6. Dezember, hat der Heilige Bischof Nikolaus von Myra längst ausgedient. Santa Claus hat ihn verdrängt: Rote Zipfelmütze mit Pelzrand statt der Mitra, Jacke im gleichen Design statt des Bischofsmantels, Glöckchen statt des Hirtenstabs. Selbst die seriösesten Schokoladen-Geschäfte in Deutschland tun sich schwer, überhaupt noch echte Nikoläuse aufzutreiben – alles „Santas“, die so tun als ob. Wie konnte es soweit kommen? 

Ein Christmas Song von 1950

Um das herauszufinden, muss man der Geschichte eines populären amerikanischen Weihnachtsliedes aus dem Jahre 1950 nachgehen: Silver Bells. Sein Refrain lautet:

Silver bells, silver bells, it’s Christmas time in the city.
Ring-a-ling, hear them ring, soon it will be Christmas day.

Silberglöckchen, Silberglöckchen, es ist Weihnachtszeit in der City.
Hör, wie sie klingen, bald wird es Weihnachten sein.

Es sind die Silberglöckchen der Santas, die hier durch die Straßen von New York klingen, während das Christmas Shopping seinen Höhepunkt erreicht. Das Songwriter-Duo Ray Evans und Jay Livingston schuf diesen langsamen Walzer mit seiner süßlichen Melodie 1950 für einen Hollywoodfilm, in dem es genau darum geht: Santa als Herr über das Christmas Shopping. So unschuldig Melodie und Text auch daherkommen: Sie passten genau in die Zeit, als die amerikanische Wirtschaft boomte und die Menschen fünf Jahre nach Kriegsende das Leben im Shoppingrausch genießen wollten. Wie heißt es so schön in der letzten Strophe?

This is what Christmas time meens to me:
Strings of streetlights, even stop lights blink a bright red an green,
As the shoppers rush home with their treasures.
Hear the snow crunch, see the kids rush, this is Santa’s big scene,
And above all this buzzle you‘ll hear:
Silver bells, silver bells …

Nahtlos könnte man diese Verse auf heute übertragen: „Das ist es, was die Weihnachtszeit für micht bedetet: Die Straßenbeleuchtung sendet ihre hellen Strahlen aus (nicht etwa der Stern von Bethlehem). Sogar die Ampeln blinken in den Weihnachtsfarben Rot und Grün, während die Shopper ihre Schätze nachhause tragen. Man hört den Schnee knacken, man sieht die Kinder spielen: Santa Claus hat seinen großen Auftritt. Und über diesem ganzen Stadtgewimmel hört man sie klingeln: die Silberglöckchen der Santas.“ 

Fundraising mit Glöckchen

In New York bimmelten die Santas seinerzeit an jeder Straßenecke, aber nur mit einer „licence“, einer polizeilichen Genehmigung, denn sie waren staatlich zugelassene „Fundraiser“ und sammelten für einen guten Zweck. Als Bob Hope und Marilyn Maxwell im Film The Lemon Drop Kid den gerade erst veröffentlichten Song auf die Leinwand bannten, zogen sie durch die verschneiten Straßen von New York, mitten durch den „Buzzle“ der Shopper und die spielenden Kinder hindurch. Plötzlich wird Bob Hope im Santa-Kostüm von einem Wachtmeister angehalten, der ihn festnehmen möchte, bis er unter dem Kostüm seine Licence vorzeigt. Zu Beginn der Szene belehrt das Liebespaar einen mürrischen Santa, wie man das Lied singen muss, um Geld in die Sammelbüchse zu bekommen: „Du musst an deinen Gefühlen arbeiten, sei subtil, delikat.“ Bob Hope lässt die Glöckchen klingen, und Marilyn Maxwell stimmt ihn an, den City Christmas Song Silver Bells:

City sidewalks, busy sidewalks, dressed in holiday style,
In the air there’s a feeling of Christmas.

Im Deutschen klingt das eher prosaisch: 

Überfüllte Gehwege in der Stadt, geschmückt im Festtagsstil,
In der Luft liegt ein Gefühl von Weihnachten.

Santa Claus als Shopping-Ikone

Um sich in Weihnachtsstimmung zu versetzen, mussten die beiden Hollywood Stars anno 1950 hart arbeiten: Gedreht wurde schon im Juli und August. Trotzdem wurde der Film zum Fest nicht rechtzeitig fertig und kam erst im März 1951 in die Kinos. Es lag noch immer genügend Schnee, um sich an das schöne Weihnachtsfest zu erinnern. Schneller waren Bing Crosby und Carol Richards, die ihre Schallplattenversion im September 1950 einspielten. Decca brachte die Platte schon im Oktober heraus, rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft. 

Derweil arbeiteten die amerikanischen Companies daran, wie sie das Modell „Christmas Shopping“ nach Europa bringen konnten. Santa Claus spielte dabei eine Schlüsselrolle. Den traditionellen Nikolaus durfte man im christlich geprägten Deutschland als Gegenspieler nicht unterschätzen, konnte sich aber auf die deutsche Tradition vom „Weihnachtsmann“ berufen. In den USA war die Gestalt von Santa Claus mit Fellmütze, Rauschebart und dickem Bauch durch eine Zeichnung des Karikaturisten Thomas Nast schon 1881 fest etabliert worden. Er hatte damit das beliebteste Nikolaus-Gedicht der Amerikaner illustriert: A Visit from St. Nicholas von Clarke Moore aus dem Jahre 1823. „Santa Claus“ war also die Erfindung eines Romantikers. Romantisch blieben auch die Vorstellungen, die der Kinderbuchautor Frank Baum 1902 verbreitete. Sein Buch Das Leben und die Abenteuer von Santa Claus wurde zum Kinderbuch-Klassiker der USA. Kids im ganzen Land begannen, diesen gemütlichen Alten mit dem Rauschebart und der Zipfelmütze zu lieben. 

Nach der Jahrhundertwende entdeckten die Werbefachleute das ökonomische Potential von Santa, wie das Satiremagazin Puck in seiner Weihnachtsausgabe von 1905 schon deutlich vor Augen führte: eine elegante Lady im festen Griff von Santa Claus. 1912 erschien der erste Santa auf der Kino-Leinwand, 1937 öffnete eine Santa School ihre Pforten – zur fachgerechten Ausbildung der Straßen-Santas. Zum Big Business wurde der gemütliche Alte aber erst, als ihn die Coca-Cola-Company in den Dreißigern für ihre Weihnachtswerbung entdeckte. Pepsi-Cola zog in den Vierzigern nach. Immer gewaltiger wurden die Vorstellungen vom Spielzeug-Paradies, aus dem er die weihnachtlichen Gaben für die Kinder auf seinen Schlitten packt. Parallel dazu nahm der Stress für amerikanische Eltern, ihren Kindern auch wirklich alle Wünsche an Santa zu erfüllen, stetig zu. Während deutsche Kinder noch brav ihren Wunschzettel ans Christkind schrieben, hatte die Shopping-Ikone Santa Claus längst zum Sprung über den Atlantik angesetzt.

Silver Bells auf dem Schreibtisch

Zurück zum Song Silver Bells: 2005 erzählte der damals schon 91-jährige Ray Evans, wie es dazu kam. Er und sein Komponistenfreund Jay Livingston wurden von den Paramount Pictures nur jeweils für sechs Monate engagiert: Jedes halbe Jahr entschieden die Studios, ob sie einen neuen Song kaufen wollten oder nicht. Im Sommer 1950 lag noch keine Anfrage vor, und die beiden wurden leicht nervös, denn sie hatten ihre Familien zu ernähren. Da kam der Auftrag, für den Film The Lemon Drop Kid einen Christmas Song zu schreiben: „Wir hatten keine Lust darauf, weil wir idiotischerweise der Meinung waren, es gäbe schon viel zu viele Christmas Songs. Gott sei Dank haben wir uns geirrt. Der Song hat sich auf Schallplatte mehr als 500 Millionen Mal verkauft und uns ganz anständige Tantiemen beschert,“ erinnerte sich Ray Evans voller Dankbarkeit. Die Inspiration zu dem Text kam ihm durch eine kleine Tischglocke, die auf seinem Schreibtisch stand. Sie erinnerte ihn an die Glöckchen, mit denen die Santas an den Straßenecken für ihren guten Zweck warben. So fanden die beiden das Thema für ihren Song. Ray Evans sagte am Ende des Interviews. „Ich bin der glücklichste Mensch von der Welt und danke Gott von Herzen, dass ich mit 91 immer noch lebe.“ Zwei Jahre später ist er gestorben. Er war der lebende Beweis für die Wirkungsmacht des amerikanischen Christmas Songs und schuf mit Silver Bells ein Zeitdokument für die USA im Shoppingrausch der frühen Fünfziger Jahre.

Zum Hören und Schauen:

Bob Hope und Marilyn Maxwell singen im Film The Lemon Drop Kid den Song Silver Bells in den Straßen von New York:

https://www.youtube.com/watch?v=eblFe2mknpg