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Der Kastrat Domenico Bedini in einer seiner Paraderollen: als Oreste in Angelo Tarchis Ifigenia in Tauride, gezeichnet von Carlo Spiridione Mattei anno 1788 in Perugia (Taccuino 42 der Mattei-Zeichnungen in der Biblioteca Augusta in Perugia, original 150x190 mm).

Advent 1782 in Mailand

Mailand am 10.12.1782: ein Adventsgespräch zwischen Freunden des berühnten Padre Martini über eine der ersten großen Opern an der neuerbauten Scala.

Ein Adventspäckchen von Padre Martini, Mailand 1782

von Karl Böhmer

Am 10. Dezember 1782 verließ der Barnabiten-Pater Giovenale Sacchi das Collegio Imperiale de‘ Nobili im Herzen von Mailand, um einen berühmten Sänger aufzusuchen, der sich gerade auf sein Debüt an der Scala vorbereitete: Domenico Bedini. Der Soprankastrat aus Fossombrone in den Marken und der gelehrte Pater aus Mailand hatten einen gemeinsamen Freund: Padre Martini, den in Bologna ansässigen Franziskanerpater und berühmtesten Musiktheoretiker Italiens. Da Sacchi gerade an einer Biographie des Sängers Carlo Broschi alias Farinelli arbeitete, hatte Padre Martini für seinen Mailänder Freund ein Bündel mit biographischen Informationen über den berühmtesten aller Kastraten zusammengestellt. Dieses „picciolo involto“ wiederum wurde vom Kastraten Bedini von Bologna nach Mailand gebracht. Sacchi bedankte sich dafür in einem Brief vom 11. Dezember an Padre Martini: „Ich habe von Signor Bedini das kleine Bündel erhalten und bin persönlich zu ihm gegangen, um mich bei ihm zu bedanken. Wir haben lange zusammen über den sehr gelehrten und sehr gütigen Padre Martini gesprochen.“

Adventsgespräch unter Freunden 

Man kann sich das rührende Gespräch in Mailand lebhaft vorstellen: Der 56-jährige Mailänder Barnabiten-Pater, der als Rhetorik-Professor am Collegio dei Nobili lehrte, und der 35-jährige Starsänger zählten zu den engsten Freunden des weltberühmten Franziskaners in Bologna, dem sogar Kaiser Joseph II. seinen Besuch abstattete. Seit 1755 stand Sacchi mit Martini im regelmäßigen Briefaustausch über viele gelehrte Themen. Dazu gehörten natürlich die drei Bände von Martinis Musikgeschichte, aber auch Sacchis Farinelli-Biographie oder auch Martinis berühmte Musiker-Pinakothek, für die Sacchi so manches Porträt aus Mailand besorgte, u.a. auch sein eigenes, eines der schönsten der Sammlung. Es ist noch heute im Bologneser Museo internazionale della Musica zu sehen nebst einer Büste des gelehrten Mailänder Mönchs.

Der Sänger Bedini war in derselben Pinakothek mit einem Profilporträt im Kupferstich vertreten, das 1781 in Perugia angefertigt worden war. Seit seiner Übersiedlung ins große Bologna nach Weihnachten 1766 zählte der Sopranist aus den Marken zu den Schützlingen von Padre Martini. Der rührige Franziskaner saß im Zentrum eines ganzen Netzwerks von Sängern, die er den Höfen Europas, den Kirchen Italiens und den Impresari der Opernhäuser vermittelte. Für den jungen Bedini schrieb der Padre etliche Empfehlungsschreiben an seine komponierenden Schüler in ganz Italien – so lange, bis Bedini 1779 in Turin und Neapel der Durchbruch gelang. Bei allen Komponisten war der Sopranist wegen seiner guten Manieren und seines tiefen musikalischen Verständnisses hoch angesehen. Obwohl er wegen seiner ungeschlachten Erscheinung und wegen seiner Vorliebe für das Cantabile im Bologneser Stil nicht alle Opernkenner überzeugen konnte, machte er eine der glänzendsten Sängerkarrieren der Mozartzeit. 

Advent der Sänger: Opernproben

Die Konsequenz davon war, dass Bedini zwischen 1767 und seiner Übersiedlung nach Loreto zwanzig Jahre später nur eine einzige Adventszeit bei Padre Martini in Bologna verbringen konnte: 1774, während des langen Konklaves, das zur Wahl von Papst Pius VI. führte. Ansonsten war er in jedem Advent mit der Einstudierung von zwei Karnevalsopern beschäftigt – in seinen frühen Jahren von 1767 bis 1771 als Secondo uomo, ab 1772 als Primo uomo und schließlich ab 1778 in dieser Position an den größten Opernhäusern Italiens. Bedini eroberte nacheinander die Theater von Turin und Neapel, Florenz und Rom, Mailand und Modena, Venedig und Genua. Als er im Sommer 1791 verpflichtet wurde, in Mozarts Prager Krönungsoper La clemenza di Tito die Partie des Sesto zu singen, war es die Krönung seiner dreißigjährigen Sängerkarriere.

La Circe von Cimarosa

Im Advent 1782 war Bedini mit einer besonders anspruchsvollen Partie beschäftigt: Er sang den Ulisse alias Odysseus in La Circe, der neuen Oper von Domenico Cimarosa, die am 26.12. in der Scala ihre umjubelte Uraufführung erlebte. Damals begann die Stagione an der Scala noch nicht am Festtag des Hl. Ambrosius, dem 7.12., sondern alljährlich am zweiten Weihnachtsfeiertag. Das neue gewaltige Opernhaus des Architekten Piermarini war erst vier Jahre zuvor eingeweiht worden. Mit Cimarosa hatte man für den Karneval 1783 den hellsten Stern am italienischen Opernhimmel verpflichtet. Der Komponist aus Anversa bei Neapel gehörte dank seiner Buffa-Opern wie L’Italiana in Londra längst zu den Trendsettern der Mozartzeit. Nun sollte er sich an der Scala im Genre der Opera seria bewähren, was ihm schon in der prachtvollen Ouvertüre zu La Circe hinreißend gelang. Ihre drei ineinander übergehenden Sätze füllten den Riesenraum der Scala mit majestätischer Klangpracht, dramatischen Hell-Dunkel-Kontrasten und den schönsten melodischen Einfällen. Auch die Arien und Ensembles der Vier-Stunden-Oper konnten dieses Niveau halten. Am Ende war Erzherzog Ferdinand von Mailand restlos begeistert. Der Habsburger herrschte als Statthalter für seinen älteren Bruder Kaiser Joseph II. über die Lombardei. Er zählte zu den größten Opernkennern Italiens und war von Cimarosas Circe so begeistert, dass er dem Komponisten zum Dank öffentlich ein Geschenk überreichte: „Cimarosa ist zu Recht stolz auf den Empfang in unserer Stadt, wo er von Erzherzog Ferdinand eine prächtige, mehrfarbig emaillierte Golddose und von der Leitung des Theaters ein weiteres Geschenk erhielt.“ So berichtete das Giornale enciclopedico di Milano nach der Abreise des Komponisten am 24. Januar 1783.

Bedini als Ulisse 

Wesentlichen Anteil an Cimarosas Erfolg hatte sein erster Sänger Domenico Bedini, dem er die Partie des Ulisse auf den Leib geschrieben hatte. Bedinis Bravourarie im ersten Akt zählt zum Schwersten, was die Opera seria der Mozartzeit hervorgebracht hat. Im selben Akt hatte er als liebesmüder Odysseus allein drei Abschiedsduette mit der Primadonna Anna Pozzi in der Rolle der Zauberin Circe zu singen – eine höchst ungewöhnliche Dichte an Ensembles. Im zweiten Akt begeisterte er das Publikum im obligatorischen Rondò des Primo uomo, „Idol mio, pietoso il fato". Diese große, unendlich rührende Abschiedsarie beginnt im schmerzlich-süßen Cantabile und steigert sich über bewegte Deklamation und Agitato-Ausbrüche im Allegro bis zur mehrfach wiederholten Cabaletta des schnellen Teils. Bedini galt in diesem Modegenre der Opera seria als unangefochtener Meister, wobei er fast alle seine Rondòs in A-Dur sang, mit stets einander ähnelnden melodischen und harmonischen Wendungen. Als er 1791 in Wien Mozart traf und ihn bat, für die Partie des Sesto in La clemenza di Tito ebenfalls ein Rondò in A-Dur zu schreiben, sang er dem Komponisten sein acht Jahre altes Cimarosa-Rondò vor, das inzwischen sogar in Paris gedruckt worden war. Melodische Übereinstimmungen zwischen Mozarts und Cimarosas Rondò verraten, wie viel Sestos berühmte Arie „Deh per questo istante solo“ dem Vorbild aus Cimarosas Circe verdankt.

Requiem für Padre Martini im Advent 1784

Über den Erfolg der Cimarosa-Oper muss Bedini selbst an Padre Martini geschrieben haben, weil Sacchi sich dazu in seinen Briefen nicht äußerte. Die Rückkehr des Sängers nach Bologna in der Fastenzeit 1783 glich einem Triumph, doch nur knapp zwei Jahre später hatte Bedini die traurige Pflicht, die erste Sopranpartie im Requiem für Padre Martini zu singen: Am 3. August 1784 starb der berühmte Gelehrte im Alter von 78 Jahren. Bedini trauerte um seinen langjährigen Mentor und reihte sich als Mitglied der berühmten Accademia Filarmonica in die Riesenschar der Musiker ein, die am Donnerstag vor dem zweiten Advent das Requiem für den Verstorbenen aufführten. Die Gazzetta di Bologna berichtete: „Am 2. Dezember dieses Jahres hielten die Accademici Filarmonici dieser Stadt zusammen mit einigen Schülern des verstorbenen hochwürdigsten Padre Maestro Gioan Battista Martini und verschiedenen anderen hochgestellten Persönlichkeiten in der Kirche der Lateran-Kanoniker, San Giovanni in Monte, ein feierliches Requiem für den unvergleichlichen Bologneser Padre Maestro, Franziskanerminorit, Akademiker am Istituto delle Scienze und Ehrenmitglied der Accademia Filarmonica. Die erlesene Musik war von 13 verschiedenen Maestri aus Bologna komponiert worden, allesamt Mitglieder der Accademia Filarmonica, hervorragend ausgeführt von 186 Sängern und Instrumentalisten, unter denen sich besonders die Herren Domenico Bedini und Giuseppe Cicognani hervortaten, die für ihr Können allgemein bekannt sind.“

Zum Hören:

Domenico Cimarosa: Ouvertüre zu La Circe (Mailand, Teatro alla Scala, 26.12.1782), Toronto Chamber Orchestra, Kevin Mallon

https://www.youtube.com/watch?v=r1vCvqOxfFk

Wolfgang Amadeus Mozart: „Deh per questo istante solo“, Rondò des Sesto aus La clemenza di Tito, Adrian Angelico, Bergen National Opera 2021

https://www.youtube.com/watch?v=BjtR1SpoFJA

Giovanni Battista Martini: De profundis und Requiem, Ensemble Musicale San Pietro

https://www.youtube.com/watch?v=e33CBZFQ8ew