Winter in Venedig 1709
Den Winter in Venedig hat kein Komponist so suggestiv in Töne gefasst wie Antonio Vivaldi. Er hatte dazu eine konkrete Vorlage: den grausamen Winter 1709.
Vivaldi malt den Winter in Venedig
von Karl Böhmer
Als Venezianer hatte der rothaarige Priester und Geigenvirtuose Don Antonio Vivaldi normalerweise nicht die Gelegenheit, Eisläufer auf Schlittschuhen zu beobachten. Zu mild war das Winterwetter in der Lagunenstadt selbst in jener Periode der europäischen Wettergeschichte, die man „die kleine Eiszeit“ nennt. Venezianer standen normalerweise nicht zähneklappernd und mit den Füßen stampfend am Rande zugefrorener Kanäle. Dennoch hat er all dies in seinem berühmten Winter-Konzert aus den Vier Jahreszeiten in Töne übersetzt – sein einziges Violinkonzert in der düsteren Tonart f-Moll. Was könnte den Maestro zu diesem außergewöhnlichen Concerto inspiriert haben?
Der Winter 1709
Ein Gemälde in der venezianischen Galleria Querini Stampiglia offenbart des Rätsels Lösung: Der Maler Gabriele Bella hielt den Augenblick fest, als seine ungläubigen Landsleute die zugefrorene Lagune im Januar 1709 zum Schlittschuhlaufen nutzten. Am Dreikönigsfest 1709 begann der kälteste Winter, der jemals über Europa hereinbrach. Er ließ den Rhein für drei Monate zufrieren. Die Vögel fielen erfroren vom Himmel, und die Ernte des Jahres wurde komplett vernichtet. Selbst in Venedig froren alle Kanäle und die Lagune zu, und obwohl es Anfang Februar taute, kehrte die Kälte danach umso grausamer zurück.
„Es war der kälteste Monat seit Menschengedenken. Mitten in der Kleinen Eiszeit, die fünf Jahrhunderte andauerte, sank Europa im Januar 1709 auf polare Temperaturen. Rom erlebte zwischen dem 6. und 24. Januar dreizehn Schneefälle. In Paris wurden -23,1 °C, in Berlin -29,4 °C und in Venedig, das zusätzlich von einem starken Boreas-Wind heimgesucht wurde, -17,5 °C gemessen. Die Lagune fror zu, während auf dem Festland der Gardasee so weit zugefroren war, dass Kutschen hindurchfahren konnten, und die umliegende Po-Ebene von anderthalb Metern Schnee bedeckt war […] Die Kälte begann in der Nacht des Dreikönigstages und hielt Europa den ganzen Monat lang fest im Griff. Innerhalb weniger Stunden froren alle Flüsse, Seen und Brunnen zu. Ursache war vermutlich ein russisches Hochdruckgebiet, das sich bis nach Frankreich und Spanien erstreckte, wobei sich die intensivsten Kältezentren über Deutschland und Italien ausbreiteten. Alle wichtigen Häfen wie Marseille, Genua und Venedig froren zu; selbst das Meer gefror bis nach Livorno. Der Schaden in der Landwirtschaft war unermesslich und forderte zahllose Menschenleben. Doch die spielerische Seite der Menschheit fand selbst in diesem schrecklichen Monat noch Raum für Unterhaltung: In Venedig liefen die erstaunten Einwohner auf der Lagune Schlittschuh, wie Chroniken und ein Gemälde von Gabriel Bella, einem Maler und Chronisten der Republik Venedig, belegen. Seine Werke sind in der Fondazione Querini Stampalia erhalten.“ (aus dem Online-Magazin Stile Arte, Februar 2023)
Eisläufer in der Lagune
Alles, was der Maler Bella auf jenem Gemälde festhielt, hat Vivaldi im Finale seines Winter-Konzerts in wunderbar fließende Violinlinien übertragen – Töne, die gleichsam auf Kufen gespielt werden müssen. Man hört bzw. sieht zu Beginn den erfahrenen Eisläufer, der mit eleganten Schwüngen den glatten Untergrund meistert. Um ihn herum freilich sind die Anfänger zu sehen, die sich langsam vortasten – so wie das Streichorchester in Vivaldis Allegro. Sie werden wagemutiger, probieren die ersten Schwünge aus und fallen hin – immer und immer wieder. Auf Bellas Gemälde sieht man mehr stürzende als fahrende Eisläufer, denn die Venezianer waren keine Schlittschuh-Virtuosen wie die Niederländer. Im weiteren Verlauf von Vivaldis Finale wagt sich ein besonders selbstbewusster Eisläufer an brillante Pirouetten, doch den gewagtesten Sprung meistert er nicht mehr. Er stürzt, und unter ihm bricht das Eis. Auch dies muss Vivaldi im Winter 1709 mit eigenen Augen gesehen haben, wurde das Eis doch plötzlich brüchig, als Anfang Februar die kurze Tauwetter-Periode begann.
Frieren unter den Attacken des Nordwinds
Was die klirrende Kälte anno 1709 für die Venezianer bedeutete, hat Vivaldi im ersten Satz des Winters geschildert, und zwar gleichsam hautnah, weil er selbst zu den Betroffenen gehörte. Sein Allegro non molto beginnt mit erstarrten Ton-Repetitionen, mit „klirrenden“ Trillern und eisigen Dissonanzen. Man spürt förmlich, wie den Menschen die Kälte durch alle Glieder fährt. Darüber erhebt sich in den wilden Passagen der Solovioline der grausame Winterwind, der Boreas, der in Venedig anno 1709 besonders heftig tobte. Die Menschen versuchen, sich durch Aufstampfen und Umherlaufen zu wärmen, was zu einem Forte-Ausbruch im stampfenden Rhythmus führt. Doch kurz danach hört man ihr Zähneklappern – ein eisiges Tremolo voller Dissonanzen. Zum Schluss kehrt noch einmal das stampfende Thema wieder. Als Vivaldi seine Vier Jahreszeiten anno 1725 endlich zum Druck beförderte, lag der Winter 1709 schon so lange zurück, dass er seine Tongemälde in den 14 Zeilen eines Sonetts minutiös erläutern musste.
Der Regen plätschert gegen die Scheiben
Aus jenem Sonetto dimostrativo, dem „erklärenden Sonett“, geht auch hervor, was es mit dem wunderschönen Largo auf sich hat und mit der berühmten Es-Dur-Melodie der Solovioline. Der Satz trägt den Titel La pioggia, „Der Regen“, und schildert das Tauwetter Anfang Februar 1709. Die Melodie der Solovioline zeigt die Menschen, wie sie in der warmen Stube behaglich am Ofen sitzen und dem Regen zuschauen, der gegen die Scheiben prasselt. Dafür zupfen die Tuttistreicher ihre Saiten, und das Cello spielt ein besonders bewegtes Arpeggio, um das Prasseln des Regens noch realistischer klingen zu lassen. Es bleibt den Interpret(inn)en überlassen, wie drastisch man all dies in Tonmalerei umsetzt. Ob der Regen prasselt oder nur sanft plätschert, ob man die Melodie der Solovioline in Vivaldis Manier verziert oder ob man sie schlicht und schön in den Raum stellt, bleibt sich letztlich gleich. Dieses Largo wird für alle Zeiten ein Symbol winterlicher Gemütlichkeit bleiben.
Zum Hören und Schauen:
Antonio Vivaldi: Concerto f-Moll L'inverno, op. 8 Nr. 4 mit der Solistin Cynthia Miller Freivogel (Barockvioline) und dem US-amerikanischen Barockensemble Voices of Music, aufgenommen in der St. Mark's Lutheran Church in San Francisco (mit den eingeblendeten Gedichtzeilen zum Verständnis der Musik)