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Der Titel des Jugenheimer Liederblatts, in dem die Schwestern Christaller dem Lied Maria durch ein Dornwald ging seine bis heute populäre Fassung gaben.

Maria durch ein Dornwald ging

Maria durch ein Dornwald ging ist eines der Lieblingslieder der Deutschen zur Adventszeit. Doch ist es wirklich älter als 175 Jahre? 

Spurensuche nach einem Adventslied

Von Karl Böhmer

Kaum ein Lied der Adventszeit lädt auf so rührende Weise ein, sich ins Schicksal der Gottesmutter einzufühlen, wie Maria durch ein Dornwald ging. Obwohl es so klingt, als wäre es uralt, reicht seine Überlieferung nicht weiter zurück als bis ins Jahr 1850. Wahrhaft populär wurde es erst durch einen hessischen Druck der Wandervögel von 1911. Die folgende Spurensuche bewegt sich zwischen Jugenheim an der Bergstraße und Andernach am Rhein, zwischen Paderborn und dem Eichsfeld.

Jugenheimer Liederblatt von 1911

Obwohl das Lied von Maria und dem Rosenwunder im Dornenwald schon 1850 in einer Sammlung geistlicher Volkslieder zum ersten Mal gedruckt wurde, blieb es um die traurige g-Moll-Weise mit dem rührenden Text lange Jahre still, bis sie anno 1911 von drei jugendbewegten Schwestern in Jugenheim an der Bergstraße nachgedruckt wurde. „Nun schicken auch wir Jugenheimer Wandervögel ein Liederblatt in die Welt“, so schrieben die Schwestern Christaller stolz im Vorwort zu ihrem 16 Seiten starken Heftchen. „Freilich ein wenig traurig sind die Lieder fast alle, aber die sind uns unwillkürlich über die Lippen gekommen, wenn wir draussen lagerten am Fluss, der langsam und träumend seine Wellen dahinzieht, in grünen Wiesentälern und auf stolzen Burgruinen.“ Mit diesen Sätzen machten die drei Töchter der evangelischen Dichterin Helene Christaller deutlich, wie sehr ihr Jugenheimer Liederblatt für die „Wandervögel“ bestimmt war, für das Singen draußen in der Natur im Stil der neoromantischen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Auf diesem Humus gedieh auch der Kult um das Lied Maria durch ein Dornwald ging in geradezu rasanter Weise, denn an den Erstdruck in Jugenheim schlossen sich Nachdrucke in anderen Liederheften der Wandervögel an. Schon bald war das Lied in aller Munde. Im Jugenheimer Liederblatt steht es auf der zweiten Notenseite, und zwar genau so, wie es bis heute allenthalben gesungen wird – mit den drei Strophen, die vom Rosenwunder im Dornenwald erzählen, und mit der gängigen Fassung der Melodie:

  1. Maria durch ein Dornwald ging, Kyrie eleison! Maria durch ein Dornwald ging, der hat in siebn Jahrn kein Laub getragn. Jesus und Maria!
  2. Was trug Maria unter ihrem Herzen? Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen.
  3. Da haben die Dornen Rosen getragen, als das Kindlein durch den Wald getragen, da haben die Dornen Rosen getragen.

Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen von 1850

Vier weitere Strophen und eine andere Version der Melodie zeigt der Erstdruck des Liedes von 1850, zu finden auf den Seiten 64 und 65 des umfangreichen Bandes Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen, gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern. Zwei Jahre nach der Revolution von 1848 erschien im erzkatholischen Paderborn dieser Sammelband, der sich vornahm, mündlich tradierte oder in alten Gesangbüchern vergrabene Schätze des geistlichen Liedes für die Gegenwart neu zu beleben. Der anonyme Herausgeber der insgesamt 124 Lieder war der in Bökendorf bei Paderborn geborene August Franz Ludwig Maria Freiherr von Haxthausen, seines Zeichens Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler, Landwirt und Schriftsteller sowie im Nebenberuf Sammler von Volksliedern. Von Paderborn aus bat er diverse Freunde, auch im Münsterland oder in Thüringen und Nordhessen nach mündlich tradierten Liedern zu forschen. Das „Wallfahrtslied“ von Maria im Dornwald stammte angeblich aus dem Eichsfeld, also aus jener katholischen, ehemals kurmainzischen Enklave, die in der Diaspora zwischen den Lutheranern Thüringens und Hessens Jahrhunderte lang ihre eigenen Traditionen bewahrte. So weit, so gut – aber was hat es mit diesen geheimnisvollen Ursprüngen wirklich auf sich?

Volksliedforschung 2014

In ihrem 2014 publizierten Buch Mythos Maria – Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte berichteten Hermann Kurzke und Christiane Schäfer, wie sie nach den Ursprüngen dieses Marienliedes geforscht hatten. Sie stellten die provokante Frage: „Ist das Dornwaldlied so wie Am Brunnen vor dem Tore ein Kunstprodukt des 19. Jahrhunderts, von der Art der nazarenischen Malerei oder der Neugotik? Das ist möglich, aber zuerst einmal ist es geboten, dem Hinweis gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern zu folgen und zu prüfen, ob das Lied nicht doch altehrwürdig sei, ins 18., vielleicht auch ins 17. Jahrhundert zurückreiche, oder gar ins 16. und in die Zeit der «Leisen», der auf «Kyrieleison» endenden geistlichen Lieder des Spätmittelalters.“

Zunächst richtete sich der Blick der Beiden auf das Mittelrheintal, nach Andernach, wo eine mögliche Wurzel des Liedes schon im 17. Jahrhundert aufscheint: „Ein Lied Maria ging durch einen Wald hat es um 1600 jedenfalls gegeben, wie man einer Angabe im Andernacher Gesangbuch von 1608 entnehmen kann. Leider ist der Text nirgends aufzufinden, und niemand weiß, ob er einen Bezug zum Dornwald hat.“ Da diese mögliche Vorlage verlorenging, untersuchten die Forscher Haxthausens Manuskriptvorlagen zu seiner Sammlung. Was die schöne Melodie betrifft, kamen sie zu einem ernüchternden Ergebnis: „Die vorhandenen Handschriften“ seien „in das letzte Jahrzehnt vor Erscheinen, also in die 1840er Jahre zu datieren. Ältere Quellen finden sich im Nachlaß tatsächlich nicht, so daß sich für die These, das Lied oder wenigstens seine Melodie seien erst im 19. Jahrhundert entstanden, Pluspunkte ergeben. Nach der Handschriftenlage besteht jedenfalls kein Grund, das 19. Jahrhundert nach rückwärts zu verlassen.“ 

Ungleich komplizierter ist die Quellenlage für den Text, hatte Haxthausen in seinen Strophen 4 bis 7 doch ein „Ansingelied“ zum Neujahrstag bzw. zur Silvesternacht verarbeitet. Die Frauen und Mädchen zogen in der Silvesternacht durchs Dorf und sangen unter den Fenstern der Häuser ein Lied über die „Taufe“ des Jesuskindleins, also seine Beschneidung am Neujahrstag, um Spenden zu sammeln: „Wie soll dem Kind sein Name sein? Der Name, der soll Christus sein. Das war von Anfang der Name sein.“ Dies erklärt, warum der Text der betreffenden Strophen gar nicht zur Erzählung vom blühenden Dornenwald in den ersten drei Strophen passt: Haxthausen hat zwei Liedertraditionen überlagert. „August von Haxthausen hat das Rosenwunder-Lied komplettiert und das Taufe-Jesu-Lied geordnet. Vielleicht hat er auch beide erstmals in dieser Form zusammengefügt. Vielleicht war ja gar nicht das Dornwaldlied, sondern das Namen-Jesu-Lied zusammen mit der Melodie zuerst da. Vielleicht hat Haxthausen dem Ansingelied zum Namen-Jesu-Fest, von dem ihm Fragmente aus dem Eichsfeld zugekommen sein mögen, die Legende von der schwangeren Maria im Dornengestrüpp vorangestellt. Eigentlich passen die Teile nicht nahtlos zusammen. Zwischen Schwangerschaft und Taufe klafft sachlich eine Lücke: die Geburt bleibt ausgespart.“ (Kurzke und Schäfer, 2014)

Für uns heute spielen die Strophen des „Taufe-Jesu-Liedes“ keine Rolle mehr. Dank der Schwestern Christaller ist die schöne g-Moll-Melodie des Liedes ausschließlich mit der Erzählung vom Rosenwunder im Dornenwald verknüpft. Und erst so wurde es zum besonders anrührenden, allseits beliebten Adventslied, auch wenn seine altertümlich anmutende Melodie in Wahrheit der Feder eines Komponisten aus dem 19. Jahrhundert entsprungen sein mag.

Zum Hören:

Voces8 singen Maria durch ein Dornwald ging im A Cappella-Arrangement von Stefan Claas:

https://www.youtube.com/watch?v=hDfAhzaiy5A

Sängerinnen und Sänger des Janaček-Konservatoriums in Ostrava, Klavier: Irena Szurmanová (Tschechisches Radio Ostrava, 2014)

https://www.youtube.com/watch?v=wZRTSqVSVmw