Friedrich Gernsheim, der Romantiker aus bedeutender jüdischer Familie in Worms, ausgebildet in Mainz, Frankfurt und Leipzig, später als Komponist, Dirigent und Pianist in Köln, Rotterdam und Berlin erfolgreich (1839-1916).

3. Klavierquartett F-Dur, op. 47 auf You Tube mit Andreas Kirpal und Mitgliedern des Diogenes Quartetts: https://www.youtube.com/watch?v=4seWXwjXwcc

Friedrich Gernsheim

Die Villa Musica Musikgeschichte von Rheinland-Pfalz beginnt mit dem Wormser Friedrich Gernsheim und seinem dritten Klavierquartett – die Überraschung zum Jahreswechsel in Mainz und Engers.

Villa Musica Musikgeschichte von Rheinland-Pfalz

Kapitel 1: Friedrich Gernsheim

75 Jah­re Rhein­land-Pfalz ist für die Vil­la Mu­si­ca ein will­kom­me­ner An­lass, in den nächs­ten Mo­na­ten im­mer wie­der auf be­deu­ten­de Mu­si­ke­rin­nen und Mu­si­ker aus der Ge­schich­te un­se­res Bun­des­lan­des hin­zu­wei­sen. Wir schrei­ben eine klei­ne Vil­la Mu­si­ca-Mu­sik­ge­schich­te von Rhein­land-Pfalz. Dem Worm­ser Fried­rich Gerns­heim gebührt der Vortritt, war er doch der be­deu­tends­te jü­di­sche Kom­po­nist, der je­mals in un­se­ren Lan­den ge­bo­ren wur­de, und zu­gleich ei­ner der größ­ten Meis­ter der spä­tro­man­ti­schen Kam­mer­mu­sik im Um­feld sei­nes Freun­des Brahms. So­wohl un­ser frü­he­rer Künst­le­ri­scher Lei­ter Klaus Arp als auch un­ser Künst­le­ri­scher Di­rek­tor Ale­xan­der Hüls­hoff ha­ben sich mit Nach­druck für Gerns­heims Wer­ke ein­ge­setzt. Dies führ­te schon zu et­li­chen Vil­la Mu­si­ca-Auf­füh­run­gen sei­ner Kam­mer­mu­sik. Zuletzt erklang das dritte Klavierquartett von Gernsheim in den Jahreswechsel-Konzerten 2021-22 - zur freudigen Überraschung des Publikums in Mainz und Engers. Diesem Werk und seinem Komponisten sind die folgenden Betrachtungen gewidmet.

Friedrich Gernsheim und sein drittes Klavierquartett

von Karl Böhmer

Das dritte Klavierquartett F-Dur Opus 47 von Fried­rich Gernsheim ist ein idealer Einstieg in das Leben und Schaffen des jüdischen Komponisten aus Worms. Es verweist auf seine Wurzeln im Rheinland, auf seinen von Brahms geprägten Stil und auf seine hohe melodische Begabung, die, gepaart mit harmonischer Farbigkeit und einem luziden Klangsinn, die besondere Qualität seiner Kammermusik ausmacht.

Friedrich Gernsheim kam am 17. Juli 1839 in Worms zur Welt. Die al­tan­säs­si­ge jü­di­sche Fa­mi­lie trug den Na­men der klei­nen süd­hes­si­schen Stadt Gerns­heim am an­dern Rhein­ufer und war so prä­gend für die jü­di­sche Ge­mein­de in Worms, dass ihre Na­men noch heu­te in der Al­ten Sy­na­go­ge zu le­sen ste­hen. Vom Lei­ter des Worm­ser Mu­sik­vereins, Lou­is Lie­be, er­hielt der klei­ne Fritz die ers­te Un­ter­wei­sung im Ton­satz und auf dem Kla­vier, auf dem er sich im Revolutionsjahr 1848/49 bei Ernst Pau­er in Mainz ver­voll­komm­ne­te. Als Elf­jäh­ri­ger ging er nach Frank­furt, als Drei­zehn­jäh­ri­ger ans Leip­zi­ger Kon­ser­va­to­ri­um, wo bei drei be­rühm­ten Leh­rern aus der Ära Men­dels­sohn stu­dier­te: Klavier bei Ig­naz Mo­sche­les, Violine bei Fer­di­nand Da­vid und Musiktheorie bei Mo­ritz Haupt­mann. Pa­ris wur­de zum Hö­he­punkt sei­ner Lehr- und Wan­der­jah­re. Dort studierte er 1855 bis 1860 bei Marmontel am Conservatorie, freundete sich mit Saint-Saëns an, lernte den alten Rossini kennen und erlebte das brodelnde Pariser Musikleben zwischen Meyerbeers Opern und dem „Tannhäuser-Skandal“ um Richard Wagner.

Wie­der zu­rück in Deutsch­land nahm er zu­nächst eine Chor­lei­terstel­le in Saar­brü­cken an, be­vor er 1865 als Leh­rer für Kom­po­si­ti­on und Kla­vier ans Köl­ner Kon­ser­va­to­ri­um be­ru­fen wur­de. Im Al­ter von 35 Jah­ren zog es ihn in die be­nach­bar­ten Nie­der­lan­de: Zwi­schen 1874 und 1890 lei­te­te er den Mu­sik­verein in Rot­ter­dam, wo es ihm so gut ge­fiel, dass er 1880 so­gar ei­nen Ruf nach Ber­lin aus­schlug. Erst zehn Jah­re spä­ter lock­te ihn die Reichs­haupt­stadt ans Stern­sche Kon­ser­va­to­ri­um. Im Vier­tel­jahr­hun­dert sei­ner Ber­li­ner Jah­re war er Lei­ter des Stern­schen Ge­sang­vereins und Do­zent am Kon­ser­va­to­ri­um, Mit­glied der Aka­de­mie der Küns­te, Kom­po­nist und Pi­a­nist. 1914 ehr­te ihn die Stadt Dort­mund zu seinem 75. Ge­burts­tag mit ei­nem zwei­tä­gi­gen Gerns­heim­fest. Zwei Jah­re spä­ter, am 10. September 1916, ist er in Ber­lin gestor­ben – ein Nachzügler der Brahms-Ära wie seine Freunde Max Bruch und Camille Saint-Saëns.

Gerns­heims Œu­vre ist dem Werk sei­nes Freun­des Brahms im Um­fang und den Gat­tun­gen selt­sam ähn­lich. Auch er schrieb vier Sin­fo­ni­en und vier gro­ße So­lo­kon­zer­te, zwei Or­ches­ter­ou­ver­tü­ren, et­li­che Chor­wer­ke und Lie­der. Zen­tral sind die 22 Ope­ra sei­ner Kam­mer­mu­sik. „In der Viel­sei­tig­keit sei­nes Schaf­fens feh­len nur die Oper und das abend­fül­len­de Chor­werk.” (Wil­li Kahl) 

Gerns­heim im Gür­ze­nich, Ad­vent 1883

In ih­rer Neu­jahrs­aus­ga­be 1884 brach­te die Neue Mu­sik-Zei­tung eine Mel­dung über eine be­deu­ten­de Kam­mer­mu­sik-No­vi­tät, die man vor Weih­nach­ten im Köl­ner Gür­ze­nich hat­te hö­ren kön­nen: Am 11. De­zem­ber 1883, dem Diens­tag nach dem zwei­ten Ad­vent, hatte der Wormser Romantiker Fried­rich Gerns­heim wie­der ein­mal in sei­ner lang­jäh­ri­gen Wir­kungs­stät­te Köln gastiert und ein neu­es Kla­vier­quar­tett vor­ge­stellt. Es erwies sich als Meisterwerk:

„Köln a. Rh. In der letz­ten Heck­mann’schen Kam­mer­mu­sik-Soirée, die un­ter Mit­wir­kung Friedr. Gerns­heims statt­fand und de­ren Pro­gramm nur Gerns­heim’sche Kom­po­si­ti­o­nen ent­hielt, kam […] ein neu­es (3.) Kla­vier­quar­tett zur Auf­füh­rung, das sich als ei­nes der her­vor­ra­gends­ten Wer­ke der Neu­zeit in die­sem Gen­re er­wies. Form­schön­heit, präch­ti­ge Me­lo­dik und treff­li­che Ma­che sind dem in­te­res­san­ten Opus ins­be­son­de­re nach­zu­rüh­men. Das Heck­mann’sche Quar­tett spiel­te be­wun­de­rungs­wür­dig.“ (Neue Mu­sik-Zei­tung, Köln, 1. Ja­nu­ar 1884, S. 9)

Auch die Kölner Lokalpresse war voll des Lobs für das neue Werk, war der Komponist in der Domstadt doch eine vertraute Erscheinung. 1865 bis 1874 hat­te Gerns­heim dort als Leh­rer am Kon­ser­va­to­ri­um, als Lei­ter des Ge­sang­vereins und Kap­ell­meis­ter am Stadt­the­a­ter ge­wirkt. Dann hatte er die Dom­stadt Richtung Rot­ter­dam verlassen, wo sein Schaf­fen in­zwi­schen be­ein­dru­cken­de Hö­hen er­klom­men hat­te. 1882 hat­te er in Rot­ter­dam sei­ne Zwei­te Sin­fo­nie in Es-Dur zur um­ju­bel­ten Ur­auf­füh­rung ge­bracht und an­schlie­ßend in ei­ner Ad­vents­tour­nee durch Deutsch­land mit dem größ­ten Er­folg di­ri­giert. Die Spal­ten der deut­schen Mu­sik­pres­se wa­ren voll des Lobs für die Sin­fo­nie und seine anderen neuen Wer­ke, da­run­ter Elo­henu, sein jü­di­sches Ge­bet für Cel­lo und Or­ches­ter, und Ag­rip­pi­na, sei­ne gro­ße Ge­sang­sze­ne für die Al­tis­tin Ama­lie Jo­a­chim. Mit umso grö­ße­rer Span­nung wur­de die Rück­kehr des Rot­ter­da­mer Mu­sik­di­rek­tors nach Köln er­war­tet. Der Gei­ger Ro­bert Heck­mann gewährte ihm die Ehre, die zwei­te Soi­ree der Sai­son im Isa­bel­len­saal des Gür­ze­nich als rei­nen Gerns­heim-Abend zu ge­stal­ten. 

Gernsheim und Heckmann

Das Heck­mann­sche Quar­tett zähl­te da­mals schon zu den bes­ten Streich­quar­tet­ten Eu­ro­pas und mach­te sich durch pro­mi­nen­te Ur­auf­füh­run­gen ei­nen Na­men, da­run­ter Griegs g-Moll-Quar­tett und di­ver­se Brahms-No­vi­tä­ten. Gerns­heim hat­te dem En­semb­le sein a-Moll-Quar­tett Opus 35 ge­wid­met, mit dem Heck­mann die Soi­ree am 11. Dezember 1883 im Gürzenich er­öff­ne­te, ge­folgt vom D-Dur-Streichquin­tett Opus 9. Hö­he­punkt des Abends war die Ur­auf­füh­rung des Kla­vier­quar­tetts F-Dur op. 47. Es wur­de so voll­en­det aus der Tau­fe ge­ho­ben, dass der Kri­ti­ker der Köl­ner Nach­rich­ten an den Mu­si­kern nichts aus­zu­set­zen hat­te:

Die Auf­füh­rung, bei der der Kom­po­nist selbst den Kla­vier­part spiel­te, war vor­treff­lich und gab na­ment­lich dem zwei­ten Sat­ze die rich­ti­ge Be­leuch­tung. Herr Prof. Gerns­heim ist als ge­die­ge­ner Pi­a­nist hier so be­kannt, daß es über­flüs­sig er­schei­nen dürf­te, die vie­len gu­ten Sei­ten sei­nes Spiels noch­mal her­vor­zu­he­ben. Das Heck­mann­sche Quar­tett aber be­wies wie­der durch sämt­li­che Vor­trä­ge des Abends, wie be­rech­tigt die vie­len schmei­chel­haf­ten Su­per­la­ti­ve sind, wel­che man hier so­wohl aus­wärts bei Be­ur­tei­lung sei­ner Leis­tun­gen zur An­wen­dung bringt.“ (Köl­ner Nach­rich­ten, 11.12.1883)

Vom Kom­po­nis­ten Gerns­heim war der Re­zen­sent ge­ne­rell we­ni­ger an­ge­tan als vom Pi­a­nis­ten. Er hielt ihn für ei­nen ed­len Epi­go­nen:

Was Gerns­heim giebt, ist Mit­tel­gut. Er be­herrscht die Tech­nik vollstän­dig und ver­steht es, vor­zugs­wei­se die Kam­mer­mu­sik­for­men mit ge­schmack­vol­len, an­spre­chen­den Ge­dan­ken aus­zu­fül­len. Sei­ne Er­zäh­lun­gen sind in­te­res­sant, nicht neu, aber auch nicht gänz­lich be­kannt, und selbst Ge­dan­ken, die uns schon deut­li­cher an den ei­gent­li­chen Au­tor er­in­nern, weiß er eine neue Sei­te ab­zu­ge­win­nen. So nimmt uns denn die Art, wie er sie aus­spricht, sei­ne stets nob­le Aus­drucks­wei­se für ihn ein.

Immer­hin muss­te der Köl­ner Kri­ti­ker kon­ze­die­ren, dass es sich beim F-Dur-Kla­vier­quar­tett von 1883 um eine be­deu­ten­de No­vi­tät han­del­te:

Dem Wer­ke, wel­ches als eine sehr be­mer­kens­wer­te Be­rei­che­rung der Kam­mer­mu­sik an­zu­se­hen ist, sind Form­schön­heit und präch­ti­ge Me­lo­dik ei­gen­tüm­lich. Höchst cha­rak­te­ris­tisch und pi­kant ist be­son­ders der zwei­te Satz, ein All­egro ener­gi­co e pas­si­o­nato, wäh­rend der ers­te Satz mit dem drit­ten, ei­nem sehr emp­fin­dungs­vol­len An­dan­te, wohl auf ei­ner Stu­fe steht und das Fi­na­le (The­ma mit Va­ri­a­ti­o­nen) sehr viel ver­spre­chend be­ginnt, in der Ent­wi­cke­lung aber in etwa ent­täuscht. Im gan­zen Quar­tett sind die The­ma­ta treff­lich durch­ge­führt und bil­den, fest an­ei­nan­der ge­schlos­sen, ein schö­nes har­mo­ni­sches Gan­ze, wo­durch sich das Werk schon vor­teil­haft aus­zeich­net vor so vie­len neu­ern Kom­po­si­ti­o­nen glei­chen Gen­res, die zu­wei­len nichts wei­ter sind als eine lose Fol­ge mehr oder we­ni­ger gu­ter Ge­dan­ken.

Die­se Be­schrei­bung be­stä­tigt die nä­he­re Be­trach­tung des Wer­kes, das zu den klang­schöns­ten und me­lo­disch reichs­ten Kla­vier­quar­tet­ten des Re­per­toires zählt. 

Kla­vier­quar­tett F-Dur, op. 47

Wie sein Freund Brahms hat Gerns­heim drei Kla­vier­quar­tet­te ge­schrie­ben. Wäh­rend er im frü­hen Es-Dur-Quar­tett von 1865 noch ganz un­ter dem Ein­fluss von Schu­mann und Men­dels­sohn stand, ori­en­tier­te er sich im c-Moll-Quar­tett von 1870 deut­li­cher an den ers­ten bei­den Brahms­quar­tet­ten. Im F-Dur-Quar­tett von 1883 ging er ei­ge­ne Wege, zwi­schen ro­man­ti­scher Schwär­me­rei im Kopf­satz, ei­nem schwel­ge­ri­schen An­dan­te und dem hu­mor­vol­len Fi­na­le. Le­dig­lich der vom Köl­ner Kri­ti­ker so ge­prie­se­ne zwei­te Satz sorgt für dra­ma­ti­sche Ak­zen­te.

Für die ly­ri­sche Grund­hal­tung des Wer­kes ist das ein­lei­ten­de All­egro tran­quil­lo en­tschei­dend. Die­ses „ru­hi­ge All­egro“ im Drei­er­takt wird vom Kla­vier auf denk­bar ein­fa­che Wei­se er­öff­net: mit ei­nem al­pen­län­di­schen Ruf­mo­tiv in Ok­ta­ven. Erst im sieb­ten Takt fü­gen die Strei­cher Ak­kor­de hin­zu. Nach zwölf Tak­ten über­neh­men sie das The­ma, ver­set­zen es aber so­fort in die Terz­ver­wand­te A-Dur – ein Hin­weis auf Gerns­heims schil­lern­de Har­mo­nik, die in der Fort­spin­nung Es-Dur und Ces-Dur be­rührt. Der F-Dur-Ganz­schluss wird im Di­mi­nu­en­do er­reicht, so dass die Über­lei­tung ganz lei­se ein­set­zen kann. Das Kopf­mo­tiv liegt nun im Kla­vier­bass und grun­diert Can­ta­bi­le-Li­ni­en der Strei­cher, die sich zu ei­nem ganz knap­pen, hef­ti­gen For­tis­si­mo ver­dich­ten. Da­nach set­zen sich so­fort wie­der die lei­sen Töne durch: Gei­ge und Cel­lo stim­men im Uni­so­no ei­nen hym­ni­schen D-Dur-Ge­sang an, eine Art Re­mi­nis­zenz an den Brahms des Vi­o­lin­kon­zerts und der Zwei­ten Sin­fo­nie. Das Streich­trio spinnt die­ses Sei­ten­the­ma al­lei­ne wei­ter, bis im voll­grif­fi­gen Kla­vier­satz ein neu­es Mo­tiv ein­setzt, ein rup­pi­ger Volks­tanz, „hei­ter und gut mar­kiert“ zu spie­len. Da­mit ist die The­men­vor­stel­lung aber noch nicht ab­ge­schlos­sen, denn das Cel­lo löst sich aus dem Quart­ett­klang und stimmt ei­nen lang­ge­zo­ge­nen, sehn­süch­ti­gen Ge­sang in D-Dur an, den die Gei­ge in ho­her Lage auf­greift und hym­nisch stei­gert. Eine lei­se Re­mi­nis­zenz ans Haupt­the­ma be­schließt die Expo­si­ti­on. Das Mo­tiv wird vom Cel­lo auf­ge­grif­fen, um­ge­kehrt und nach Moll ver­setzt. So ver­wan­delt sich das Haupt­the­ma un­ver­se­hens in ei­nen me­lan­cho­li­schen f-Moll-Ge­sang - der Be­ginn der Durch­füh­rung, die sich ganz auf das Haupt­the­ma kon­zen­triert. Kämp­fe­ri­sche Va­ri­an­ten des The­mas las­sen nicht lan­ge auf sich war­ten, doch im­mer wie­der fällt die Stim­mung ins Ne­bu­lö­se zu­rück. Umso schö­ner, wenn die Brat­sche das Haupt­the­ma end­lich wie­der in der Grund­ton­art spielt. Nun kehrt auch das schö­ne Sei­ten­the­ma wie­der, da­nach der kes­se Mar­ca­to-Volks­tanz und das hym­ni­sche drit­te The­ma des Cel­los. Die lei­se Re­mi­nis­zenz ans Haupt­the­ma, die schon die Ex­po­si­ti­on be­en­det hat­te, mün­det nun in die Coda. Ein zar­tes Streicherduett stei­gert sich so em­pha­tisch, dass es am Ende doch noch zur rauschenden Apo­the­o­se des Haupt­the­mas kommt. 

Das Scher­zo setzt als All­egro ener­gi­co e ap­pas­si­o­nato in d-Moll ei­nen grel­len Kon­trast zum ly­ri­schen Kopf­satz, was bei der Ur­auf­füh­rung 1883 in Köln of­fen­bar zün­den­de Wir­kung ent­fal­te­te. Der 9/8-Takt des griffigen Kla­vier­the­mas wird dabei immer wieder durch He­mi­o­len verschleiert. Schon im brillanten Haupt­teil fehlt es nicht an wei­chen, lei­sen Epi­so­den, doch die ei­gent­li­che Über­ra­schung birgt das Trio. Auf dem Hö­he­punkt der kämp­fe­ri­schen d-Moll-Er­re­gung, zwi­schen Streich­er­tre­mo­lo und Kla­vier­stac­ca­to, bricht das All­egro plötz­lich ab und macht ei­nem ganz lei­sen und ver­träum­ten Un poco meno mos­so in D-Dur Platz. Die­ses Trio ist aus Ak­kord-Spinn­we­ben des Kla­viers und lei­sen Streich­er­kan­ti­le­nen sche­men­haft ge­wo­ben. Um die­sen schö­nen Ein­druck nicht zu zer­stö­ren, hat Gerns­heim eine ganz lei­se, flir­ren­de Rück­lei­tung zum Scher­zo-Haupt­teil ge­schrie­ben. Mit­ten hinein in die­ses „Wald­we­ben“ spielt das Kla­vier die Re­pri­se sei­nes d-Moll-The­mas. Es wird zwingend bis zum kan­tig fu­ri­o­sen Schluss ge­stei­gert.

Das An­dan­te can­ta­bi­le gehört zweifellos zu Gernsheims schönsten langsamen Sätzen. Über ei­nem ver­füh­re­risch schö­nen Klang­grund entfaltet die Violine eine weit­ge­spann­te, träu­me­ri­sche Kantilene in B-Dur. Die auf­stei­gen­den Klang­ne­bel im Kla­vier und der Brat­sche er­in­nern gleich an zwei Vor­bil­der: an den An­fang von Bachs Kan­ta­te „Wei­chet nur, be­trüb­te Schat­ten“, BWV 202, die schon 1862 in der Al­ten Bach­aus­ga­be er­schie­nen war, und an das An­dan­te aus dem zwei­ten Kla­vier­quar­tett von Brahms. Wie Wol­ken­ne­bel hül­len die­se Klän­ge den Ge­sang der Vi­o­li­ne ein – ein Clai­re de lune, ein Nacht­stück im silb­ri­gen Mond­licht. Herr­lich, wie sich die Me­lo­die zwang­los ent­fal­tet, wie sie da­nach von den tie­fen Strei­chern auf­ge­grif­fen wird und end­lich auch im Kla­vier er­scheint, be­vor der ers­te Teil mit ei­nem Plagal­schluss leise aus­klingt. Auf die­se 31 Tak­te schöns­ter ro­man­ti­scher Stim­mungs­ma­le­rei lies Gerns­heim ei­nen eben­so meis­ter­li­chen Mit­tel­teil fol­gen, ei­nen Kla­ge­ge­sang des Streich­tri­os in b-Moll, der von wo­gen­den Tri­o­len der Brat­sche ge­tra­gen wird. Das Kla­vier mischt sich zag­haft ins Ge­sche­hen ein und greift auch das b-Moll-The­ma zu­nächst lei­se und zö­gernd auf, zum Piz­zi­ca­to der Strei­cher. Be­hut­sam steu­ert die Mu­sik auf den Aus­bruch der vol­len Lei­den­schaft im For­tis­si­mo zu: Über wo­gen­den Brat­schen- und Kla­vier­klän­gen spielt die Gei­ge das b-Moll-The­ma in ho­her Lage, molto ap­pas­si­o­nato e semp­re con for­za, „sehr lei­den­schaft­lich und stets mit Kraft“. Wie im­mer in Gerns­heims Vi­o­lin­so­li spürt man den aus­ge­bil­de­ten Gei­ger. Der Aus­bruch der Lei­den­schaft scheint sich schon zu be­ru­hi­gen, da greift der Cel­list noch ein­mal con for­za in die Sai­ten und führt den Moll-Mit­tel­teil zum schmerz­lich be­weg­ten Ende. Was nun folgt, ist eine der schöns­ten Rück­lei­tun­gen in der ro­man­ti­schen Kam­mer­mu­sik. Sie be­ginnt mit ei­nem Ges-Dur-Trug­schluss und ge­heim­nis­vol­len Kla­vier­ak­kor­den, lässt dann die Ne­bel­schwa­den der Strei­cher wie­der auf­stei­gen. Über Ces-Dur/H-Dur wird end­lich B-Dur er­reicht, doch noch im­mer lässt das Haupt­the­ma auf sich war­ten. Erst nach 20 wun­der­vol­len Rück­lei­tungs­tak­ten stimmt das Cel­lo in ho­her Lage den B-Dur-Ge­sang vom Be­ginn wie­der an, ge­stei­gert durch eine Ge­gen­stim­me der Vi­o­li­ne, durch neue Vor­hal­te und syn­ko­pi­sche Wen­dun­gen. Die Coda zieht in un­end­lich rüh­ren­den Dis­so­nan­zen die Quint­es­senz aus dem The­ma und ver­klingt ganz lei­se.

Mit si­che­rem Ge­spür lies Gerns­heim auf die­ses wun­der­schö­ne An­dan­te kein ähn­lich tief­grün­di­ges Fi­na­le fol­gen, son­dern ein Stück rhei­ni­schen Hu­mors: ein Tema con Va­ria­zi­o­ni über ein sim­ples Trom­pe­ten­the­ma. Ohne jede Be­glei­tung er­öff­net der Pi­a­nist den Satz qua­si Trom­ba, mit ei­nem Fan­fa­renthe­ma in der rech­ten Hand, so als wäre er ein So­lo­trom­pe­ter im Or­ches­ter. Auf die­sen Vor­der­satz von acht Tak­ten ant­wor­tet im Nach­satz gleich­sam der vol­le Blä­ser­satz in Kla­vier­ak­kor­den, be­glei­tet vom nach­schla­gen­den Piz­zi­ca­to der Strei­cher – ima­gi­nä­re Or­ches­ter­mu­sik. So­fort geht es in die ers­te der zwölf Va­ri­a­ti­o­nen, die Gerns­heim zu drei Tei­len grup­piert hat: als All­egro in F-Dur, als lang­sa­men Mit­tel­teil in f-Moll/F-Dur und als tän­ze­ri­schen Kehr­aus. Der ers­te Teil, All­egro mo­de­ra­to e pesan­te, sug­ge­riert eine Syn­the­se aus Va­ri­a­ti­o­nen- und So­na­ten­form: Auf das The­ma folgt die ers­te Va­ri­a­ti­on als mar­ti­a­li­sche Über­lei­tung. Die Gei­gen­me­lo­die der zwei­ten Va­ri­a­ti­on dient als Sei­ten­the­ma, das sich bis in das Kla­vier­so­lo der drit­ten Va­ri­a­ti­on er­streckt. Die fol­gen­de Streich­er­va­ri­a­ti­on aus Stac­ca­to und Piz­zi­ca­to scheint eine Schluss­grup­pe an­zu­deu­ten. Da­nach schei­nen Kla­vier und Strei­cher in eine wuch­ti­ge Durch­füh­rung ein­zustei­gen, doch plötz­lich kommt es zur Voll­brem­sung vor der sechs­ten Va­ri­a­ti­on: Im Gra­ve setzt ein kla­gen­der f-Moll-Kon­tra­punkt der Strei­cher ein, eine dreistim­mi­ge In­ven­ti­on im Bach­stil. Das Kla­vier mel­det sich mit ba­ro­cken punk­tier­ten Rhyth­men zu­rück, doch die Brat­sche be­schwich­tigt mit ei­nem sü­ßen An­dan­ti­no im Si­ci­li­a­no-Rhyth­mus. Die üb­ri­gen Strei­cher stei­gen auf die­sen neu­en Duk­tus ein, so dass in der Mit­te des Sat­zes eine In­sel aus lang­sa­men In­ter­mez­zi ent­steht – die Va­ri­a­ti­o­nen 6 bis 9. Sie die­nen als Span­nungs­stau vor dem drit­ten Ab­schnitt. Die Va­ri­a­ti­o­nen 10 bis 12 hat Gerns­heim zu ei­nem All­egret­to scherzan­do e ben mi­su­ra­to im 6/8- und 2/4-Takt zu­sam­men­ge­fasst – ein Par­cours aus ra­send schnel­len Läu­fen. Am Ende mel­det sich un­ver­se­hens der kraft­vol­le Rhyth­mus aus dem Nach­satz des Va­ri­a­ti­o­nent­he­mas zu­rück und er­öff­net eine kur­ze, wuch­ti­ge Coda mit or­gi­as­ti­schem Schluss.