Luísa Todi, als weiblicher Orpheus gemalt von der Französin Élisabeth Vigée-Lebrun (Foto: Wikipedia).

Pergolesi in Paris

Was für uns heute die Bach-Passionen, das war für die Pariser des 18. Jahrhunderts das Stabat Mater von Pergolesi, besonders, wenn es von der Portugiesin Luísa Todi gesungen wurde.

Pergolesi in Paris

Vor der Französischen Revolution verging in Paris keine Passionszeit, ohne dass Pergolesis Stabat Mater im Concert spirituel erklungen wäre – mit ritueller Regelmäßigkeit am Mittwoch der Karwoche, am Gründonnerstag und Karfreitag. Dabei kam das Publikum jahrelang in den Genuss einer Stimme, die in ihrer Einzigartigkeit die Zeitgenossen schlicht überwältigte: Luísa Todi, die große Portugiesin. Sie hat ihre Weltkarriere 1778 just im Concert spirituel begonnen und dort das Stabat Mater so oft gesungen wie keine andere Sängerin. Für die Pariser waren Pergolesis Leidenstöne und der leidenschaftliche Gesang der Todi eins. Die legendäre Sopranistin und Mutter von sechs Kindern rührte mit der Klage der Gottesmutter über ihren sterbenden Sohn jedes Publikum zu Tränen, weil sie jede Phrase fühlte, die Pergolesi 1736 für das altehrwürdige lateinische Stabat Mater erfunden hatte. Anno 1780 war der Schwanengesang des Maestro aus Jesi schon beinahe ein halbes Jahrhundert alt, doch durch die Kunst der Todi wurde er wieder zur „zeitgenössischen“ Musik.

Damit den Parisern aber die schwere Kost des Leidens leichter zu ertragen war, ging dem Stabat Mater stets ein reguläres Sinfoniekonzert voraus, so auch am Gründonnerstag 1780. Italienische Bravourarien trafen auf eine unbekannte Mozartsinfonie und ein Flötenkonzert von Stamitz. Die Pastellfarben des späten Rokoko hatten die düsteren Farben der Passion zu mäßigen. Noch war man ein Jahrzehnt von den Schrecken der Französischen Revolution entfernt.

Mozarts zweite Pariser Sinfonie

Ostern lag anno 1780 schon auf dem 26. März. Der 23. war also ein kalter, früher Gründonnerstag, und er begann in den Tuilerien mit einem Rätsel: mit Mozarts „zweiter Pariser Sinfonie“. Weil die „Affiches de Paris“ für diesen Tag eine „nouvelle symphonie de Mozart“ ankündigten, rätselt man bis heute, was sich dahinter verbarg. Mozarts bekannte „Pariser Sinfonie“ KV 297 war im Concert spirituel bis März 1780 schon so oft erklungen, dass man sie nicht als „neu“ ankündigen konnte. Könnte Mozart bei seinem Aufenthalt in Paris 1778 noch eine zweite Sinfonie komponiert haben? Handelte es sich dabei um jene zweisätzige B-Dur-Sinfonie aus Pastorale und packendem Allegro, die um 1805 in Pariser Orchesterstimmen als „Ouverture pour Grande Orchestre par Mozart“ erschien? Oder hatte Mozart schlicht seine neueste Salzburger Sinfonie KV 319 nach Paris gesandt? Wir gehen in unseren Musikbeispielen von letzterer Hypothese aus und bieten Mozarts oft unterschätzte B-Dur-Sinfonie von 1779 mit der Karajan Akademie der Berliner Philharmoniker unter Marc Minkowski an. Einige ehemalige Villa Musica-Stipendiat*innen spielen dort auch mit.

Stamitz-Konzert und Bach-Arie

Das einzige Werk, das man heute von Carl Stamitz landläufig kennt, ist sein Flötenkonzert in G, sicher einer der würdigsten Konkurrenten zu den beiden Mozart-Konzerten. Am Gründonnerstag 1780 wurde es im Concert spirituel von einem gastierenden Flötenvirtuosen gespielt: Jean-Baptiste Wendling. Der Elsässer war Soloflötist der Mannheimer Hofkapelle und mit der Primadonna Dorothea Wendling verheiratet, die ihn nach Paris begleitete. Denn auch „die Wendling“ gehörte zu den Berühmtheiten der Epoche. Obwohl die Beiden 1780 schon nicht mehr in Mannheim zuhause waren, sondern in München, wo sie zehn Monate später Mozarts Idomeneo aus der Taufe heben sollten, gaben sie gemeinsam ein Glanzstück aus Mannheimer Tagen zum Besten: eine Arie von Johann Christian Bach aus einer seiner Mannheimer Opern. Für unsere Musikbeispiele haben wir die große Aria concertata aus Amor vincitore  ausgewählt, uraufgeführt 1774 zu Schwetzingen. Umspült von den Klangwellen des Orchesters und der vier Solobläser kann der Sopran hier in gleißenden Koloraturen glänzen, aber im langsamen Mittelteil auch empfindsames Cantabile zeigen.

Todi im Stabat Mater

Noch allerhand weitere weltliche Höhepunkte hatte das „Geistliche Konzert“ an jenem Gründonnerstag zu bieten: Luísa Todi sang eine Bravourarie von Pasquale Anfossi, der Zweibrücker Konzertmeister Lenoble spielte ein neues Violinkonzert aus seiner Feder, der Neapolitaner Caravoglia ein eigenes Oboenkonzert, und noch eine weitere Anfossi-Arie mit französischer Sängerin war zu hören. Heutzutage würde man am Ende eines so langen Programms schon nachhause gehen, doch damals kam zum Schluss noch das 40-minütige Stabat Mater. Wie es von der Todi gesungen wurde, haben die Pariser Zeitungen mehrfach beschrieben: „Es ist wahr, dass Madame Todi in ihren Gesang noch nie eine so tiefe Empfindsamkeit gelegt hat“, schrieb der Mercure de France schon 1779. Kritik übte die Zeitung aber an der Interpretation des Orchesters (15.4.1779): „Das Orchester erlaubte sich, die Musik zu entstellen. Im ersten Stück, wo der Marsch des Basses gleichmäßig und sostenuto sein muss, spielten sie alle Töne spitz abgesetzt, so als habe der Komponist die Noten durch kurze Seufzerpausen getrennt. Diese bizarre Manie des Orchesters zerstörte vollkommen den Effekt eines Anfangs, der so einfach, wahr und rührend ist.“ Bis 1780 hatten das Orchester und seine Starsopranistin diesen Fehler korrigiert. Auch unsere Musikbeispiele bringen eine Aufnahme, die nicht vom „bizarren“ Staccato im Bass Gebrauch macht. 

Todi in Mainz

Vor ihrem letzten Besuch in Paris im Frühjahr 1789 – wenige Monate vor dem Sturm auf die Bastille – machte Luísa Todi einen Abstecher nach Mainz. In der ersten Märzwoche gab sie zwei Konzerte im Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses und ein Liebhaberkonzert, mit überwältigendem Erfolg. Von einer Aufführung des Stabat Mater wird nichts berichtet, denn die Fastenzeit hatte gerade erst begonnen, und die Mainzer waren mehr interessiert an Todis berühmtesten Opernarien. Doch die lebhafte Schildung eines Augen- und Ohrenzeugen aus Mainz in der Musikalischen Real-Zeitung gibt das schönste Bild der großen Todi ab, wie sie auch in Paris gesungen hat:

Mainz vom 9ten März 1789: Madame Todi die Blume und Königinn aller Sängerinnen kam verflossenen Sonntag den ersten März aus Berlin hier an; die Reputation dieser Virtuosin ist allzugroß, als daß unser Kurfürst nicht gleich alle Anstalten machen sollte, sie zu hören. Am Dienstag sang sie in einer grossen Akademie am Hofe das erstemal, Freitags darauf zum zweitenmal, und am Sonntag in unserm gewöhnlichen Liebhaberkonzert; der Zulauf von Menschen war allzeit unbeschreiblich groß, so daß immer mehrere 100 unbefriedigt zurückgehen mußten, der Beyfall, den sie durchaus hatte, war ausserordentlich und ihr Lob gieng über alles Denken. Sie sang – ach Gott! Wer mags beschreiben? Ich hab so in meinem Leben nicht singen hören. Kurz Italien hat mit allen seinen Kastraten nichts dergleichen aufzuweisen [...] Sie hat in ihrer Bedienung eine Kammerjungfer und zwei Bedienten bei sich. Ist dabei sehr freigebig, die gefälligste, angenehmste, und bescheidenste Frau, die man finden kann; ohne Prätension, ohne Caprice singt sie so viel man will, wahrlich ein schönes Muster für viele unserer Kleinvirtuosinnen mit ihren Halbtalenten!

Hörbeispiele: Vier Programmpunkte vom 23. März 1780 in Paris

https://www.youtube.com/watch?v=yALiXuYqdWE

Pergolesi: Stabat Mater, erster Satz; Keri Fuge, Sopran; Tim Mead, Alt; Academy of Ancient Music, Leitung und Cembalo: Richard Egarr 

https://www.youtube.com/watch?v=AIiOh_qiT0M

Mozart: Sinfonie B-Dur, KV 319; Karajan Akademie der Berliner Philharmoniker; Leitung: Marc Minkowski (2018)

https://www.youtube.com/watch?v=7VPqQ64gwrA

Johann Christian Bach: Arie „Queste selve già d’Amore“ mit Tinka Pypker (Sopran), vier Bläsersolisten und dem Neuen Mannheimer Orchester unter Anders Muskens

https://www.youtube.com/watch?v=p0cH4_umuVo

Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur, Davide Baldo, Soloflöte, Bohème Orchestra, Leitung: Giuseppe Montesano