Das Altarbild in der Kirche S. Maria delle Grazie in Gesualdo (Kampanien) wurde 1609 von dem Florentiner Giovanni Balducci gemalt. Es zeigt links Don Carlo vor seinem heiligen Onkel Karl Borromäus, rechts Donna Eleonora d'Este und darüber den thronenden Christus mit Heiligen (Foto: Nuova Irpinia).

Karsamstag in Gesualdo

Am Karsamstag 1611 ließ Don Carlo Gesualdo seine Rensponsorien zum Karsamstag zum ersten Mal aufführen - als Fürsprache für sein Seelenheil, unterstützt von seinem Heiligen Onkel Karl Borromäus.

Karwoche in Gesualdo

Gesualdo in Kampanien am 2. April 1611: In den frühen Morgenstunden des Karsamstags begibt sich Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, mit seiner Gemahlin Eleonora d’Este in die Kirche S. Maria delle Grazie unterhalb der trutzigen Burg, die das Städtchen im Hügelland weit östlich von Neapel beherrscht. Keine Glocke stört die Grabesruhe Jesu, doch aus der kleinen Kirche hört man schon Gesang. Die vorzüglichen fürstlichen Sänger singen sich ein für ein Ereignis, das alsbald auch die Musikwelt erreichen wird. Don Carlo lauscht der Uraufführung der letzten 9 seiner 27 Responsorien zur Karwoche. Der gesamte Zyklus wird in jenem April aus der Taufe gehoben und danach in einer mustergültigen Ausgabe zum Druck befördert – mittels einer Druckerpresse, die der Fürst eigens aus Neapel hat kommen lassen.

Responsoria et alia ad Officium Hebdomadae Sanctae spectantia. Sex voxibus („Die Responsorien und anderes, was zum Gottesdienst der Karwoche gehört, zu sechs Stimmen“.)

So lautet der Titel der Sammlung. Don Carlo hat den feierlichen sechsstimmigen Satz gewählt und bleibt diesem hohen Anspruch an kontrapunktischer Kunst nichts schuldig. Doch die klaren Linien im Palestrinastil sind durchsetzt von plötzlichen Brüchen, harmonischen Abgründen und Abstürzen in die Finsternis, wie sie um 1600 nur der Fürst von Venosa schreiben kann. Dafür ist er in der Musikwelt berühmt: von Mailand bis Neapel, von Mantua bis Rom. Weil aber Don Carlo einer der mächtigsten Fürsten im Vizekönigreich Neapel ist, muss er im Herzen seines riesigen Feudalbesitzes residieren, fern der Metropolen. Deshalb erklingt die größte Musik, die je zu diesen heiligen Texten geschrieben wurde, zum ersten Mal in einem kleinen Städtchen im tiefen Süden Italiens.

Carletto und sein berühmter Onkel

Nicht nur neapolitanisches Blut fließt in den Adern des Fürsten, sondern auch Mailändisches: das Blut der berühmten Familie Borromeo. Don Carlo denkt zurück an seine schon lange verstorbene Mutter Geronima. Sie war eine Schwester von Carlo Borromeo, dem heiligen Erzbischof von Mailand. Für sie, die junge Frau aus dem Norden, war es eine Strafe, ihrem Gemahl in den Süden folgen zu müssen. „Wenn ich Besuch aus Mailand bekomme, glaube ich, dort zu sein. Wenn man von meinem schönen Vaterland spricht, kommt es mir vor wie das Paradies im Vergleich zu diesem Land, das so traurig ist wie seine Bewohner.“ So schrieb sie im September 1568 an ihren geliebten Bruder. Zweieinhalb Jahre zuvor, am 8. März 1566, war der kleine Carlo zur Welt gekommen, und schon träumte sie davon, dass er einmal in die großen Fußstapfen ihres Bruders treten würde. Als Zweitgeborener war er für den geistlichen Stand bestimmt. Als Carlo Borromeo 1572 zum Konklave nach Rom reisen musste, hoffte sie, ihrem Bruder den kleinen Sohn endlich vorstellen zu können: „Ich wünschte, ich könnte Ihren Carlo nach Rom senden, damit er von Ihnen jenes Musterbeispiel an Tugend erlernte, das die ganze Welt bewundert.“ Doch es kam nie zu dieser Begegnung. Der Heilige Karl Borromäus kannte seinen berühmten komponierenden Neffen nur vom Hörensagen und umgekehrt, denn der Tod schlug in beiden Familien Gesualdo und Borromeo unbarmherzig zu.

Trauerfälle

Als Carletto erst sechs Jahre alt war, starb seine Mutter im Kindbett des nächsten Kindes. Was das für den Kleinen bedeutete, kann man sich kaum vorstellen. Zusammen mit seinem älteren Bruder musste er zum Onkel ins große Neapel ziehen. Kardinal Gesualdo, der Erzbischof von Neapel, erzog die beiden standesgemäß, doch auch hier ließ die Sehnsucht des Kleinen nach dem Onkel in Mailand nicht nach. Dies offenbart ein Brief des Achtjährigen: „Wenn mein Alter es zuließe, Ihnen zu dienen, würde ich keinem Ihrer Diener an Demut und gutem Willen nachstehen.“ Ob die Mutter ihm das Hohelied der schönen Heimat Mailand gesungen hatte, des kultivierten Nordens von Italien? Jahre später sollte sich Don Carlo Gesualdo in den Musikmetropolen des Nordens weit wohler fühlen als zuhause im Süden. Der Tod vernichtete alle seine Träume von einer kirchlichen Karriere und vom unbeschwerten Komponieren, das er in den musikalischen Zirkeln Neapels erlernt hatte.

Anno 1584 verstarb sein älterer Bruder, erst 21 Jahre alt. Carlo musste aufrücken, heiraten, einen Stammhalter zeugen und nach dem Tod des Vaters das große Haus Gesualdo leiten. Dann ereilte der Tod auch noch seinen aus der Ferne geliebten Onkel in Mailand. Carlo Borromeo hatte sich bei seinen letzten Exerzitien auf dem Sacro Monte von Varallo mit einem Virus infiziert und durch rigorose Bußübungen so entkräftet, dass er Allerheiligen in Mailand nicht mehr feiern konnte, sondern zwei Tage später starb (am 3. November nach Einbruch der Dunkelheit und deshalb nach italienischer Zeitvorstellung am Folgetag, dem 4. November).

Das Altarbild in Gesualdo

Dies alles liegt am Karsamstag 1611 Jahrzehnte zurück und ist doch für den Fürsten so lebendig, als wäre es gestern geschehen. Auf dem Altarbild der Kirche sieht er sich selbst, kniend vor seinem großen Onkel zur Rechten des Heilands. Carlo Borromeo blickt zum Herrn auf, legt seine Hand um die Schulter des Neffen und wirkt so als Fürsprecher für dessen Seelenheil. Seit der Onkel im Vorjahr 1610 heiliggesprochen wurde, haben sich die Aussichten des tief gläubigen Don Carlo auf die Ewigkeit erhöht. Er hat einen mächtigen Fürsprecher im Himmel. Sicherheitshalber treten noch andere Heilige auf dem Gemälde für ihn ein: Maria Magdalena, Franziskus und die Muttergottes selbst. Seine Gemahlin Eleonora kniet zur linken Hand des Herrn und wird von Katharina von Siena, Dominikus und dem Erzengel Michael empfohlen. Beide haben Fürsprache bitter nötig, denn vorne in der Mitte des Bildes droht das Fegefeuer.

Don Carlo hat dieses Altarbild 1609 von dem Florentiner Giovanni Balducci malen lassen – pünktlich zum 25. Todestag seines Onkels und in Erwartung von dessen Heiligsprechung. Mit seinen Responsorien zur Karwoche hat er dazu das klingende Pendant geschaffen, eine Bußübung in Tönen so schmerzlich wie die Selbstgeißelungen, die er an sich verübt, weil es sein Onkel genauso hielt. Und noch in einem anderen Punkt sind sich die beiden ähnlich: in der Verehrung des gekreuzigten und begrabenen Heilands. In den Stunden vor seinem Tod lässt sich der Heilige Karl in Mailand zwei Gemälde vor sein Sterbebett stellen: den Gekreuzigten und die Grablegung Jesu. Genau in dieser Spannung stehen auch die Responsorien seines Neffen zum Karsamstag: Vergegenwärtigung von Tod und Grablegung Christi und zugleich unmittelbare Identifikation des reuigen Sünders mit dem gepeinigten Heiland.

Finstermette am Karsamstag

Zwei Stunden dauert die Finstermette an jenem Karsamstag in Gesualdo. Sie ist in drei Nokturnen gegliedert. Jede beginnt mit drei Psalmen, gefolgt von jeweils drei Lesungen. in der ersten Nokturn entstammen die Lesungen den Lamentationen des Propheten Jeremia, in den zweiten den Kirchenvätern, in der dritten den Paulusbriefen. Auf jede Lesung antwortet ein Responsorium. Alles wird im Tonus peregrinus des gregorianischen Gesangs einstimmig vorgetragen außer den Responsorien. Sie unterbrechen das einförmige Rezitieren durch Mehrstimmigkeit in ihrer erhabensten Form. Fürst und Fürstin absolvieren diese langen düsteren Tenebrae in der fast dunklen Kirche mit der Würde italienischer Hochadliger. Dabei lauscht der Fürst gespannt jedem von ihm komponierten Ton, den die Kunst der Sänger in sprechenden Affekt verwandelt. Jedes gesungene Responsorium ist eine Stufe zum Seelenheil wie die Fürbitten seines Onkels beim Herrn. Dabei weiß jeder der umstehenden Höflinge, dass mit den vertonten Bibelversen nicht nur der zerschlagene, geschundene Heiland gemeint ist, sondern auch der Fürst selbst:

Jerusalem, Jerusalem, surge et exue te vestibus jucunditatis, induere te cinere et cilicio. (Responsorium II: „Jerusalem, Jerusalem, stehe auf und lege ab die Gewänder der Freude. Hülle dich in Sack und Asche.“) 

O vos omnes qui transitis per viam attendite et videte si est dolor similis sicut dolor meus. (Responsorium V: „O ihr alle, die ihr vorübergeht, schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz.“)

Ecce quomodo moritur justus, et nemo percipit corde. (Responsorium VI: „Seht, wie der Gerechte stirbt, und keiner nimmt Anteil.“)

Gesualdo, der Zerrissene

Carlo Gesualdo hat in jenen späten Jahren allen Grund, sich selbst in Sack und Asche zu hüllen. Er sei von vielen Dämonen gequält worden, die er nur durch rigorose Bußübungen habe austreiben können, so schreibt der Neapolitaner Don Ferrante della Marra 1632. Der Genueser Michele Giustiniani fasst das große Paradox im Leben des Fürsten 1675 in einen noch drastischeren Satz: „Seltsamer Lohn für den Fürsten, dass er allen Umstehenden mit seiner Melodie und der Anmut seiner Gesänge Bewunderung und Zufriedenheit brachte, während er selbst in seinen inneren Ängsten nur durch wilde Geißelung Ruhe und Trost fand.“

Im 20. Jahrhundert ist es Mode geworden, aus diesen Beschreibungen das Bild eines modernen, sein Innserstes in radikaler Chromatik offen legenden Komponisten abzuleiten. Gerade in den Responsorien, seinem geistlichen Vermächtnis, erblickt man den sich selbst geißelnden Sünder Gesualdo, der sich züchtigt, weil er seine erste Frau ermorden ließ, weil er seine zweite peinigte, und was noch alles in diese angeblich schwarze Seele hineingelegt wird. So wird fromme Musik aus dem Jahr 1611 als Selbstoffenbarung eines modernen Künstlers missverstanden, als Bekenntnismusik. Für Don Carlo und für seine zweite Gemahlin, die Fürstentochter aus Modena, die ihn trotz aller Spannungen liebte, ging es an jenem Karsamstag anno 1611 um ganz andere Dinge: Um das standesgemäße Begehen der allerheiligsten Kartage, um Compassio mit dem gekreuzigten und begrabenen Heiland und um ihr eigenes Seelenheil. Als der frischgeweihte Bischof von Venosa auf dem Weg von Rom in seinen Bischofssitz im Mai 1611 durch Gesualdo kam, beschrieb er Don Carlo als „sehr frommen und demütigen Fürsten“, von dem er viele Freundlichkeiten empfangen habe. Als der Fürst zwei Jahre später starb, am Fest Mariä Geburt 1613 in Gesualdo, hinterließ er ein Testament mit folgenden Worten:

Ich empfehle dem allmächtigen Gott meine Seele, dass er mir in seinem unendlichen Erbarmen und wegen seines kostbaren Bluts, am Holz des Kreuzes vergossen, meine Sünden vergeben und meine Seele in den Ort des Heils aufnehmen möge. Dazu rufe ich die glorreichste Jungfrau Maria, seine allerheiligste Mutter, um Fürsprache an, die Apostelfürsten, den Erzengel Michael, den Hl. Dominikus und den Hl. Karl ... (Karl Böhmer)

Hörbeispiele:

https://www.youtube.com/watch?v=JFf2COgPPak

Don Carlo Gesualdo: Responsorium II zum Karsamstag „Jerusalem, surge“, Ensemble Vocal Européen, Leitung: Philippe Herreweghe

https://www.youtube.com/watch?v=Ts8d6S77ipA

Don Carlo Gesualdo: Responsorium V zum Karsamstag „O vos omnes“, Ensemble Vox Luminis

https://www.youtube.com/watch?v=YgPHHvr66Oc

Don Carlo Gesualdo: Responsorium VI zum Karsamstag „Ecce quomodo moritur iusts“, Ensemble Vox Luminis