Der Altar der Koblenzer Schlosskapelle von Antoine-François Peyre aus seinem Werk Œuvres a'architectiure de A. F. Peyre (Paris 1818, Bnf).

Karwoche 1787 in Koblenz

Nach dem Vorbild unseres Adventskalenders laden wir unser Publikum zu einem musikalischen Osterkalender ein: Musikergeschichten von Karl Böhmer mit Hörbeispielen, durch die gesamte Karwoche bis Ostern. Nr. 1: Koblenz 1787.

Karwoche in Koblenz: Stabat Mater

Unter dem Dreieck der göttlichen Weisheit erstrahlte das Kreuz auf dem Altar der Koblenzer Hofkirche im Lichterglanz. Der Pariser Architekt Antoine Peyre hatte es in Wolken gehüllt, von einem Engel gehalten. Mit diesem Bild vor Augen lauschte Clemens Wenzeslaus von Sachsen, Erzbischof und Kurfürst von Trier, in seinem neuen Residenzschloss am Rhein den bewegenden Klängen des Stabat Mater von Joseph Haydn. Man schrieb den 6. April 1787, Karfreitag. Auf der Empore der Kirche unter dem breiten Tonnengewölbe stimmte die Altistin Franziska Sales die herzzerreißende Arie „Fac me verum tecum plere“ an. Es war der Höhepunkt der Passionsmusik am Koblenzer Hof – eine ganze Fastenspielzeit aus Oratorien und Kirchenmusik.

Die erste Altistin Deutschlands

Mit ihren 34 Jahren war Franziska Sales die berühmteste Altistin Deutschlands. Dreizehn Jahre zuvor hatte sie am Cuvilliéstheater in München einen rauschenden Erfolg gefeiert, noch unter ihrem Märchennamen Franziska Blümer, in einer Opera seria von Pompeo Sales. Auch damals war Kurfürst Clemens Wenzeslaus anwesend, denn seine Schwester regierte als Kurfürstin über Bayern, und Maestro Sales diente ihm als Hofkapellmeister in Koblenz und Augsburg. Was lag angesichts der Kurfürstlichen Präsenz in München näher, als zwischen dem Maestro und der Altistin eine Ehe zu stiften? Im November 1774 wurden der 45-jährige Italiener aus Brescia und die 22-jährige Bruchsalerin ein Paar. Böse Zungen munkelten, dass hier eine fürstliche Favoritin zur Wahrung des Anstands bei einem ältlichen Kapellmeister „unter die Haube“ gebracht worden sei. 1776 gastierten die Beiden bei Johann Christian Bach in London. Auch der jüngste Bachsohn war begeistert von der vollen Altstimme der Sängerin aus Koblenz und schrieb für sie die Rolle der Aurora in seiner Kantate Cefalo e Procri. Vom 19. April bis 15. Mai 1776 feierte Franziska Sales in den Londoner Bach-Abel-Konzerten sechs rauschende Erfolge, dann kehrte sie mit ihrem Mann an den Rhein zurück und wurde prompt zur „ersten Hofaltistin“ in Koblenz ernannt.

Koblenzer Oratorien

Fortan schrieb Pompeo Sales für seine Gemahlin Jahr für Jahr die Hauptpartie in einem italienischen Oratorium, basierend auf den Texten des Wiener Hofdichters Metastasio – Oratorien von ganz anderer Art als bei Bach und Händel, empfindsam, auf wenige Situationen zugespitzt, dem galanten Zeitalter genügend. Auf diese Art sang Franziska Sales die Judith in La Betulia liberata, den Joseph in Giuseppe riconosciuto, die Athalia in Gioas re di Giuda, die Sarah in Isacco und die Maria Magdalena in seiner Passione. Obwohl es in Koblenz keine Hofoper gab und das 1787 eröffnete Theater nur Singspiele und Buffa-Opern in deutscher Übersetzung spielte, konnte die Sales ihren Ruf als Primadonna im Altregister behaupten. Das hatte sie den Oratorien ihres Mannes zu verdanken, die in ganz Deutschland berühmt waren. Bis 1789 wurden sie im Akademiesaal des Koblenzer Schlosses aufgeführt, jeden Donnerstag der Fastenzeit. 1790 aber beschloss der Kurfürst, „von dem väterlichen Wunsche belebt, die Unterstützung der Notleidenden auf alle Art zu befördern, die Oratorien in Zukunft in dem zum Besten der Armen bestehenden Concerte in dem Comoediensaale Montags aufführen zu lassen“. Die Oratorien wurden vom Schloss ins noch heute bestehende klassizistische Stadttheater verlegt, als Benefizkonzerte an den Montagen der Fastenzeit. Dort können die Koblenzer schon 1791 gegen Eintritt drei der schönsten Oratorien ihrer Zeit hören: Sant’Elena al Calvario von Sales, Debora e Sisara von Guglielmi und die Passione von Paisiello – tief bewegende Musik über biblische Stoffe, die im späten 18. Jahrhundert jeder musikalisch Gebildete kannte. Es wäre höchste Zeit, diese Werke wieder einmal im Koblenzer Stadttheater erklingen zu lassen, denn sie gehören zum Besten, was die italienische Vokalmusik der Mozartzeit hervorgebracht hat.

Die Fastenzeit als Musikfestival

Die Oratorien, die Maestro Sales alljährlich für seine Frau und den Kurfürsten komponierte, waren Teil eines musikalischen „Spielplans“, der sich in Koblenz durch die Wochen von Aschermittwoch bis Ostern zog. Musikalisch war dies wahrhaft keine Fastenzeit, sondern ein Oratorienfestival als Höhepunkt des Jahres: Jeden Mittwoch wurde ein lateinisches Miserere aufgeführt, jeden Donnerstag ein italienisches Oratorium, jeden Freitag ein Stabat Mater, jeweils in berühmten Vertonungen aus Deutschland und Italien. Komponisten aus der Dresdner Heimat des Kurfürsten wie Joseph Schuster oder Johann Adolph Hasse spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die Koblenzer Lokalgrößen Sales, Starck und Lang. Neben Meistern aus Wien wie Haydn oder Gassmann, neben den großen Böhmen Myslivecek, Zach und Zelenka gaben Italiener die frommen Töne an: Pergolesi, Pampani und viele mehr. Für die Fastenzeit 1784 hat sich der komplette Ablauf erhalten, und zwar in den Akten der Hofmusik, die im Landeshauptarchiv Koblenz verwahrt werden. Unter der Signatur 1 C 951 findet sich die folgende Auflistung von diversen Vertonungen des Miserere, von mehreren Stabat Mater und den Sales-Oratorien:

Mi, 26.2.         Miserere von Starck (Aschermittwoch)

Fr, 28.2.          Stabat Mater von Starck

Mi, 10.3.         Miserere von Schuster

Fr, 12.3.          Stabat Mater von Pergolesi

Mi., 17.3.        Miserere von Zach

Do, 18.3.        Oratorium Gioàs re di Giuda von Sales

Fr, 19.3.          Stabat Mater von Pampani

Mi, 24.3.         Miserere von Pergolesi

Do, 25.3.        Oratorium La Betulia liberata von Sales

Fr, 26.3.          Stabat Mater von Gassmann

Mi, 31.3.         Miserere von Köffler

Fr, 2.4.            Stabat Mater von Starck

Do, 8.4.          Oratorium Affectus amantis von Sales (Gründonnerstag)

Fr, 9.4.            Miserere von Pergolesi (Karfreitag)

Hinzu kamen die liturgischen Werke der Kirchenmusik: die Tenebrae und Lamentationen der Karwoche, diverse Choralmessen für die Fastensonntage und die Festmessen zu den vier großen Feiertagen, dem Josephstag (19.3.), Mariä Verkündigung (25.3.), zur Osternacht und zum Ostersonntag.

Schöne Stimmen singen Haydn

Viel zu singen also, wobei der prachtvoll besetzten Hofkapelle ein Chor von nur zwölf Stimmen zur Seite stand, denn Maestro Sales war in der Auswahl der Sänger extrem anspruchsvoll: „Orchestermusiker sind nicht schwer zu finden, doch die guten Singstimmen, welche die wahre Zierde eines Hofes mit Kapelle sind, die guten Stimmen, sage ich, sind rar.“ So bekannte er in einem Gutachten vom 2. Juni 1792. Als sich 1788 die Mannheimer Sopranistin Caterina Carnoli in Koblenz vorstellte, versicherte ihr Sales, sie werde Gelegenheit haben, „sich in einigen Oratorien oder Stabat Mater hören zu lassen“. In Koblenz wurden auch in der geistlichen Musik die hohen Partien von Frauen gesungen, nicht von Kastraten wie in Italien. Also bezauberte die junge Mannheimerin Carnoli die Koblenzer schon bald durch ihre „sonorische Stimme“ und ihren „ausdrucksvollen Vortrag“. Sie wurde engagiert und sang fortan zusammen mit Franziska Sales die alljährlichen Stabat Mater und Oratorien. Am Karfreitag 1787 war wieder Haydns Stabat Mater an der Reihe. Carnoli und Sales stimmten den traurigen Schlussgesang an, das „Quando corpus morietur“. Darauf folgt die strahlende Schlussfuge „Paradisi Gloria. Amen“. Die zwölf Chorsänger und die Sopranistin malten den Glanz des Paradieses in stahlendem Kontrapunkt und jubelnden Koloraturen aus. Gegen neun Uhr abends verließ die Hofgesellschaft an jenem Karfreitag mit österlicher Hoffnung im Herzen die Schlosskapelle zu Koblenz.

https://www.youtube.com/watch?v=7xN-Y2zwp0s

Joseph Haydn: „Fac me vere tecum plere“ aus dem Stabat Mater

James Hall, Altus, Academy of Ancient Music

https://www.youtube.com/watch?v=5KuRudRFd-w

Joseph Haydn: „Fac me vere tecum plere“ aus dem Stabat Mater

Marie Henriette Reinhold, Hofkapelle Stuttgart, Leitung: Frieder Bernius

https://www.youtube.com/watch?v=FSPjOuo5oI8

Haydn: „Quando corpus morietur – Paradisi Gloria“

Patrizia Rosario, Catherine Robbin, The English Concert and Choir, Leitung: Trevor Pinnock