Adventskalender Rom 6.12.1707
Noch heute pilgern die Römer allährlich zu Weihnachten in die Basilika S. Maria Maggiore auf dem Esquilun. Dort trat Anfang Dezember 1707 ein neuer Kapellmeister seinen Dienst an: Alessandro Scarlatti. Die Geschichte seiner römischen Weihnachtsmesse, erzählt von Karl Böhmer.
Weihnachtsmesse für Santa Maria Maggiore, Rom im Dezember 1707
Alle Jahre wieder! Mit Einkaufstüten bewaffnet, lenken römische Eltern ihre Kinder mit sanfter Gewalt auf zwei der berühmten sieben Hügel, um die beiden Weihnachtskirchen der Stadt zu besuchen: S. Maria in Aracoeli auf dem Kapitol und S. Maria Maggiore auf dem Esquilin. Die Franziskanerkirche, benannt nach dem Himmelsaltar des Kaisers Augustus, lockt mit weihnachtlichem Blumenschmuck und dem Santo Bambino, dem wundertätigen Jesuskind. Die Marienbasilika unweit des Hauptbahnhofs bewahrt eine besonders kostbare Weihnachtsreliquie auf: die Überreste der Krippe von Bethlehem. Um 645 kamen sie als Geschenk des Patriarchen von Jerusalem in die Ewige Stadt, und noch heute kann man vor ihnen beten. Dazu steigt man in die Confessio vor dem Hochaltar hinab, wo Papst Pius IX. in Gestalt einer riesigen knienden Marmorstatue in ewiger Anbetung verharrt. Er war es, der die Krippenreliquie 1864 hierher transferieren ließ, nachdem sie Jahrhunderte lang in der rechten großen Seitenkapelle der Basilika verehrt worden war. Die Grabkapelle Sixtus’ V., heute nur noch Cappella Sistina genannt, hieß deshalb früher Cappella del Presepio. Dort wurde die Heilige Krippe mit ganz anderer Musik verehrt, als sie heute durch die Lautsprecher der Basilika dringt, wenn man ihr seinen Weihnachtsbesuch abstattet.
Amtsantritt mit Hindernissen
Er hatte sich Zeit gelassen - zu viel Zeit. Der neue Kapellmeister an S. Maria Maggiore amtierte schon seit September, doch noch war kein Kirchenstück von ihm unter der goldenen Kassettendecke erklungen. Nun kam er, der große Scarlatti, am 6. Dezember 1707 trat er endlich seinen Dienst an. Trat vor die Sänger, als sei nichts gewesen. Ein Sizilianer aus Palermo, der glaubte, ein Recht auf Roms vornehmste Musikerstelle zu haben, bloß weil er mit 13 hierhergekommen war und mit 17 eine Römerin geheiratet hatte. Damit war man noch lange kein Römer! Den Spott der Venezianer über seine neuesten Opern hatte er nur schwer verkraftet, und auch der Gran Prencipe di Toscana hatte genug von seiner umständlichen Musik. Das munkelte man in der ganzen Stadt. Aber Kardinal Ottoboni, sein großer Gönner, ließ ihn nicht fallen, im Gegenteil: Er hievte ihn auf den Esquilin, hierher, wo Foggia Vater und Sohn so lange das Lob der Gottesmutter gesungen hatten. Und das sollte er nun weiterführen, der Meister weltlicher Kantaten und sommerlicher Serenaden, sollte eine Weihnachtsmesse schreiben?
Kein friedliches Weihnachten
Als Alessandro Scarlatti am Nikolaustag vor seine Kirchensänger trat, konnte er das Misstrauen förmlich spüren. Die Sänger steckten mit seinen Feinden unter einer Decke, denn am Tiber blieb er ein Fremdling wie zuvor im Schatten des Vesuvs. Unter Morddrohungen hatte der Anfang 1703 seinen Posten als Hofkapellmeister in Neapel räumen müssen und war mit seiner Familie nach Rom geflohen. Seine Feinde in Neapel sahen ihre Stunde gekommen: Nach fast 20 Jahren konnten sie dem fremden Hofkapellmeister heimzahlen, dass er ihnen anno 1684 vorgezogen worden war. Jetzt triumphierten sie – und freuten sich zu früh. Sie konnten nicht ahnen, dass Neapel schon 1707 von den Kaiserlichen erobert werden sollte. Die neuen Herren hatten nichts Eiligeres zu tun, als Scarlatti 1709 wieder in sein altes Amt einzusetzen. In den sechs Jahren dazwischen aber musste er für sich und seine Familie in Rom ein Auskommen suchen, was schwer genug war in einer Stadt, die selbst ihre wichtigsten Kirchenmusiker nur mittelmäßig bezahlte. In Rom sei die Musik eine Bettlerin, so hatte er an Ferdinando de' Medici geschrieben.
Seine mächtigen Gönner an der Kurie ließen ihn nicht fallen. Am Silvestertag des Jahres 1703 hatten sie ihn zum Koadjutor des greisen Kapellmeisters Antonio Foggia an der Basilica Liberiana bestallen lassen, zum zukünftigen Kapellmeister. Alle Römer, die sich mit um die Stelle beworben hatten, waren düpiert und hatten anschließend allen Grund, noch mehr zu murren. Denn selten genug sah man den neuen Koadjutor in den kommenden vier Jahren auf dem Esquilin. Zu sehr war er damit beschäftigt, für jene Kardinäle Kantaten, Oratorien und Serenaten zu schreiben, die ihn in das Kirchenamt gehievt hatten. Ja selbst der Neffe seiner Heiligkeit, Annibale Albani, hörte von Scarlatti lieber Kantaten als Messen, so weit war es in Rom schon gekommen. Als Foggia im Juni 1707 starb, befand sich Scarlatti gerade in Urbino bei seinem Sohn Pietro, und weil die kaiserlichen Truppen durch den Kirchenstaat gen Neapel zogen, war er wieder Monate lang nicht in der Marienbasilika erschienen. All dies hatte sich in den Sängern aufgestaut. Mit starren Mienen traten sie dem neuen Kapellmeister entgegen, doch der war fest entschlossen, ihren Widerstand durch seine Weihnachtsmesse zu brechen.
Päpstliche Sänger auf dem Esquilin
Er begann damit, dass er als Solisten für Heiligabend die besten Sänger der Sixtinischen Kapelle einlud, des päpstlichen Chores: Francesco Besci, der gefeierte neue Starkastrat Roms, sang den ersten Sopran, sein Kollege Pasqualino Tiepoli den Soloalt. Die päpstlichen Sänger standen im ersten Chor des doppelchörigen Werkes, die Kollegen von Santa Maggiore mussten sich mit dem zweiten Chor begnügen. Um aber sicher zu stellen, dass sie dort kein Unheil anrichteten und seine Messe sabotierten, setzte er seinen Sohn Domenico an die zweite Orgel. Der virtuoseste Cembalist Italiens hatte lange Erfahrung an der Orgelbank: Schon mit 15 Jahren war er Hoforganist in Neapel geworden, unter der Ägide seines Vaters. Nun holte ihn Alessandro aus Neapel nach Rom, um auch dort die Ordnung im Ensemble sicherzustellen. Als Geiger lud er die beiden prominentesten Schüler von Corelli ein, Antonio Montanari und Pietro Castrucci. Im zu Ende gehenden Jahr hatten sie immer wieder in Kantaten eines jungen Sachsen geglänzt, der ganz Rom bezauberte: Monsù Hendel. Auch aus dem Schatten dieses neuen Konkurrenten musste Scarlatti mit seiner Weihnachtsmesse heraustreten. Dafür sicherte er sich einen Stadtbekannten Continuo-Spieler: Filippo Amadei, genannt „Pippo del Violoncello“, den berühmtesten Cellisten Roms.
Klanggewölbe über der Krippe
Mehr als diese drei brillanten Streicher und einen Kontrabassisten brauchte Scarlatti nicht als „Orchester“ für seine Messe, denn sie wurde nicht im weiten Langhaus der Basilika aufgeführt, sondern in der Cappella Sistina. Die kostbare Grabkapelle des Peretti-Papstes Sixtus’ V. war ein kompakter Zentralbau, eine Kuppelkirche neuen Typs mit hohen Emporen, gebaut als gewaltiger Reliquienschrein für die Überreste der Krippe von Bethlehem. Schon wenige Sänger und Instrumentalisten genügten, um den ganzen Raum von oben herab mit Klang zu füllen, und dies machte sich Scarlatti für seine Weihnachtsmesse zu Nutze. Zu den fünf Solisten des ersten Chors kamen im zweiten Chor nur vier Ripienstimmen hinzu. Die Kunst der doppelchörigen Verflechtung dieser neun realen Stimmen schuf ein derart dichtes Klanggewölbe, dass die Gläubigen in der feierlichsten Messe des Jahres wie in klingende Weihrauchschwaden gehüllt wurden. So waren sie auf die Prozession eingestimmt, mit der man die Krippenreliquie in der Heiligen Nacht durch die weite Basilika trug.
Fröhliche Weihnachtsmesse
Scarlattis Messa per il Santissimo Natale beginnt als fröhliche Weihnachtsmusik in der strahlenden Tonart A-Dur. Die Geigen gehen mit einem heiteren Vorspiel im Stil römischer Hirtenmusik voran, bevor die Chorsänger im Kyrie ihr erstes Klanggewölbe im Palestrina-Stil ausbreiten. Innige Terzen der Solisten lenken im „Christe eleison“ den Blick auf das Jesuskind in der Krippe. Das zweite Kyrie ist ein Volkstanz aus dem Latium, verwandelt in vielstimmiges Gotteslob. Nach der gregorianischen Intonation des Gloria legt sich zunächst weihnachtlicher Friede über die Erde, ein Klangteppich von tiefer Ruhe, bis plötzlich die Engel ihr vielstimmiges Jubilieren in der Höhe hören lassen: „Et in terra pax hominibus bonae voluntatis“. Im „Laudamus te“ melden sich die Geigen mit einem munteren Menuett zu Wort, im „Domine Filii unigenite“ singen die Solisten wieder weiche Terzen für das Jesuskind. Im „Qui tollis“ hat Scarlatti seine hohe Kunst des Kontrapunkts unter Beweis gestellt, gipfelnd in den Durezze, den schmerzlichen Vorhaltsdissonanzen des „Miserere nobis“. Zu Beginn des Credo kehrt die Hirtenmusik vom Anfang des Kyrie wieder. So wechselt seine Messe ständig hin und her zwischen breiten, feierlichen Klangflächen, tänzerischer Hirtenmusik und der innigen Verehrung des Jesuskindes in der Krippe. Die Letztere gipfelt im „Incarnatus“, dem Vers zur Menschwerdung des Gottessohnes im Credo. Hier hat Scarlatti nur mit Singstimmen und Continuo den Bordunklang italienischer Dudelsäcke nachgeahmt, der Zampogne, verwandelt in feierlichste Kirchenmusik.
Bitte um Frieden
Der magische Moment kommt ganz zum Schluss: das Agnus Dei. Komponiert im reinen Palestrinastil, verleiht es der Sehnsucht nach dem weihnachtlichen Weltfrieden wundervollen Ausdruck: „Lamm Gottes, der du trägst die Schuld der Welt, gib uns deinen Frieden.“ Kein Römer gab sich an jenem Weihnachtsfest der Illusion hin, dass die kaiserliche Armee den Kirchenstaat verschonen würde. Ihr Durchzug gen Neapel war nur das Vorspiel zum Krieg, den die päpstlichen Truppen 1709 sang- und klanglos verlieren sollten. Seit dem „Sacco di Roma“, der Verwüstung Roms durch herrenlose Söldner Karls V. im Jahr 1527, hatte es kein Habsburger gewagt, den Papst militärisch anzugreifen. Doch der junge Joseph I. in Wien schreckte vor nichts zurück. Die friedlichen Klänge von Scarlattis Weihnachtsmesse waren Balsam auf die Seelen der Römer, die nicht wussten, wann der Krieg über sie hereinbrechen würde. Umso inniger beteten sie zur Reliquie jener Krippe, in der einst der Erlöser geboren wurde, um den Menschen auf Erden den Frieden zu bringen.
Zum Hören:
Scarlatti: Messa per il Santissimo Natale (Rom, 1707) mit Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini