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Grundriss eines Meisterwerks: das Teatro alla Scala von Giuseppe Piermarini (1778).

Adventskalender Mailand 7.12.

In Mailand ist der 7. Dezember heilig, nicht nur als Gedenktag des Hl. Ambrosius, sondern auch als Saisoneröffnung an der Scala. Dorothea Enderle, lange Jahre Musikchefin bei SWR2 und Mitglied im Vorstand der Villa Musica, mit einem Streifzug durch Geschichte und Gegenwart.

Inaugurazione an der Mailänder Scala von 1951 bis heute

von Dorothea Enderle

7. Dezember in Mailand: Die Strahlen der Winternachmittagssonne fallen schräg von Südwesten auf die Fassade des Mailänder Doms.

Kommt man in diesem Moment aus den Tiefen der Metrostation Piazza del Duomo, dann baut sich schrittweise ein grandioses Bild auf, das von den fünf Portalen bis zur krönenden Madonna in 108 Metern Höhe reicht. Man kann gar nicht anders, als staunend auf den oberen Treppenstufen der Metrostation stehenzubleiben. Was für ein Anblick! Ein Gewirr von Säulen, Pilastern und Kapitellen, von Türmchen, Bögen und Skulpturen leuchtet in strahlendem Weiß in der Sonne, es ist schlichtweg atemberaubend. Bezaubert, aber auch ein wenig verwirrt sucht das Auge nach einem Ankerpunkt und wandert ziellos durch die Fülle der in Italien ganz unüblichen gotischen und neogotischen Spitzen und filigranen Durchbrüche. „Welches Wunder er ist! So großartig, so ernst, so riesengroß! Und noch so fein, so luftig, so anmutig! Eine Welt des festen Gewichts, und doch scheint das .... eine Wahnvorstellung einer Eisskulptur, die mit einem Atemzug verschwinden könnte“, schrieb Mark Twain im Sommer 1867.

Wer sich nach einigen Minuten von diesem Anblick losreißen kann und sich nach Norden wendet, gelangt mit wenigen Schritten von der immer belebten Piazza del Duomo mit ihrem gewaltigen Weihnachtsbaum in die Galleria Vittorio Emmanuele II, nicht die größte, aber unbestritten die schönste Shoppingmeile Italiens. Egal, ob man sich für deren luxuriöse Gestaltung mit ihren prachtvollen Bodenmosaiken, den Stuck, die Malereien, für ihre bei der Eröffnung 1867 technisch wegweisende Eisenkonstruktion, die raffinierte Beleuchtung oder für das Angebot der dort vertretenen italienischen Luxuslabels interessiert, keiner kommt ohne zahlreiche Handy-Fotos und Selfies am anderen Ende der Galleria wieder heraus. Und steht dann auf der Piazza della Scala – das Ziel der Ziele in Milano an einem 7. Dezember.

Das Ziel der Ziele: La Scala

Erstaunlich zurückhaltend im äußeren Erscheinungsbild liegt das legendäre Opernhaus auf der gegenüberliegenden Seite der Piazza an der Via Alessandro Manzoni, die nach dem größten italienischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts benannt wurde. Heute aber ist der Weg über die Via Manzoni abgesperrt, ja, um die ganze Scala herum entlang der Seitenstraßen Via Verdi und Via Filodramatici zieht sich ein undurchdringlicher Ring aus Absperrgittern, streng bewacht von den Carabinieri und der Polizei. Niemand gelangt bis unmittelbar vor das Teatro alla Scala, der sich nicht als dort arbeitend ausweisen kann oder aber ein Ticket, ein Biglietto für die Oper hat.

Allerdings ist dies kein gewöhnlicher Opernabend, sondern der bedeutendste Opernabend des Jahres in Italien, ja, wie die Intendanten der Scala gerne betonen, der wichtigste Opernabend der gesamten Musikwelt. Der 7. Dezember ist der Tag der Inaugurazione, der offiziellen Eröffnung der Opernsaison an der Mailänder Scala, der jährliche Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens der Lombardei, wenn nicht sogar ganz Italiens, zu dem sich Wirtschaft, Politik, Kunst- und Medienschaffende und Prominenz verschiedenster Provenienz in der Scala treffen. Der Zugang zu dieser exklusiven Veranstaltung muss teuer erkauft werden, die besten Plätze kosten derzeit 3000 Euro, und wer sich das leisten kann und mag, spart auch an anderer Stelle nicht. Die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Absperrgittern, viele von ihnen mit Protestplakaten, sehen, wenn es dunkelt und die Gäste nach und nach eintreffen, ein Defilee von erlesenster italienischer Eleganz, von noblen Privatkarossen oder auch weniger noblen Taxen, deren Passagiere, eskortiert vom Scala-Personal in Uniform, schnell im vorweihnachtlich geschmückten Vestibül des 1778 eröffneten Opernhauses verschwinden.

Wechselfälle eines Opernhauses

Der 7. Dezember ist der Tag der Bischofsweihe des Heiligen Ambrosius, des Schutzpatrons der Stadt Mailand. Geboren wurde er 339 in Trier, 58 Jahre später starb er als Bischof in Mailand. Nach wie vor feiert die katholische Kirche in Mailand ihre Gottesdienste nach der ambrosianischen Liturgie, die von der allgemein gebräuchlichen römischen Liturgie abweicht. Noch verhältnismäßig jung aber ist die Kombination eines kirchlich motivierten Gedenktages mit einem spektakulären, durch und durch weltlichen „Event“ wie der feierlichen Eröffnung der Opernsaison am Teatro alla Scala.

Die Scala, deren Bau von Maria Theresia veranlasst wurde (die Lombardei stand seit 1706 unter österreichischer Herrschaft), wurde an Stelle der extra dafür abgerissenen Kirche Santa Maria alla Scala erbaut und 1778 mit einer Oper von Antonio Salieri eingeweiht: L'Europa riconosciuta bot alles, was für einen rauschenden Erfolg nötig war: Bravourarien vom höchsten Schwierigkeitsgrad, Chöre und Ensembles, und schon damals war klar, dass am Teatro alla Scala nur die besten Sängerinnen und Sänger bestehen konnten. Schon Mozart machte die Erfahrung, dass das Publikum in Mailand nicht leicht zu gewinnen war, damals noch im Regio Ducal Teatro, dem gewaltigen Vorgänger der Scala. Doch mit seinem Mitridate konnte der Vierzehnjährige das höchstmögliche Lob einheimsen. „Alle stelle“, grenzenlos sei der Beifall gewesen, schrieb der stolze Vater nach Hause.

1943 wurde die Scala durch ein Bombardement schwer beschädigt und 1946 nach notdürftigen Reparaturen mit einem Konzert unter Arturo Toscanini wiedereröffnet. Am 7. Dezember 1951 jedoch begann die Tradition der feierlichen Inaugurazione, der glanzvollen Eröffnung der Opernsaison. Dieses Ereignis soll, so hieß es damals wie heute, die enge Verbindung der Stadt mit ihrem Opernhaus ausdrücken. Von Anfang an war es üblich, dass neben den politischen und wirtschaftlichen Repräsentanten der Stadt und der Lombardei auch der Staatspräsident zugegen ist. Unterstrichen wird die staatstragende Bedeutung dieses Abends auch dadurch, dass vor der Ouvertüre das Orchester der Scala, wohl das beste italienische Orchester, zunächst die Nationalhymne intoniert, zu der sich das gesamte Publikum erhebt.

Primadonna assoluta

Gespielt wurde bei der ersten auf diese Weise gefeierten Inaugurazione 1951 Die sizilianische Vesper von Giuseppe Verdi mit Maria Callas als Protagonistin und Victor de Sabata am Pult. In den Jahren 1951 bis 1960 war die Callas sechs Mal die Hauptperson der Inaugurazione und untermauerte damit ihren Kultstatus als Königin der Scala und als Primadonna assoluta der gesamten Opernwelt. Am alles entscheidenden 7. Dezember war sie außer in Verdis Vespri Siciliani noch in Macbeth (Verdi), La Vestale (Spontini), Norma (Bellini), Un ballo in Maschera (Verdi) und Poliuto (Donizetti) zu hören. Sie sang an der Scala jedoch auch ihre anderen Paraderollen wie die Tosca und Madame Butterfly von Puccini.

Zur Inaugurazione 1953 verpflichtete die Scala für Alfredo Catalanis Oper La Wally nicht die Callas, sondern deren Konkurrentin Renata Tebaldi. Die Callas sollte stattdessen wenige Tage später Cherubinis Medea singen. Nichts war der Presse willkommener, als mit dieser Konstellation die Spannung zu steigern und eine Rivalität zwischen den beiden Sängerinnen zu konstruieren, die in dieser Schärfe möglicherweise gar nicht bestanden hat. Jedenfalls registrierte man sehr aufmerksam, dass Maria Callas zu Tebaldis Premiere am 7. Dezember 1953 eine Loge in der Scala bezog. In der Fachzeitschrift Musica e Dischi notierte der Kritiker Bruno Slavitz zu dieser Konstellation: „Die Rivalität, die das Publikum teilt in die Bewunderer einer großen Stimme (Tebaldianer) und die Bewunderer technischer Meisterschaft (Callasianer), bringt Leben in das Theater. Zum Glück gehen Rivalität und Ritterlichkeit miteinander einher. Alle waren froh, Signora Meneghini-Callas in ihrer Loge zu sehen, wie sie Renata Tebaldis Erfolg herzlich Beifall zollte.“

Ein großes Verdienst der Callas war es, dass sie für ihren Auftritt wenige Tage später in Cherubinis Medea auf Leonard Bernstein als Dirigenten bestand. Kein Mensch kannte den jungen Amerikaner bis dato in Mailand, er hatte keinerlei Opernerfahrung und die Callas hatte ihn lediglich in Amerika mit einer Konzertübertragung im Radio gehört, wusste aber sofort, dass sie mit diesem Dirigenten singen wollte. Die Aufführung am 10. Dezember 1953 wurde zu einem ungeheuren Erfolg für beide, sowohl für die Callas als auch für Bernstein.

In den sieben Jahrzehnten, die seit der ersten Inaugurazione vergangen sind, haben alle, wirklich alle großen Sängerinnen und Sänger zu diesem Anlas gesungen. Wollte man sie alle aufführen, hätte man das Inhaltsverzeichnis eines Lexikons der großen Sängernamen.

Inaugurazione anno 2023

Was aber geschieht heute, am 7. Dezember 2023, im ehrwürdigen Oval mit seiner idealen Curva und den sechs Logenrängen? Der Musikchef der Scala, Riccardo Chailly, wird Verdis Don Carlo dirigieren, mit Anna Netrebko als Elisabeth, Elina Garanca als Eboli und René Pape als König Philipp – ein Ereignis nicht nur der Musik, sondern auch der hohen Politik, wie schon so oft im Teatro alla Scala di Milano.

Zum Hören und Schauen:

Maria Callas mit ihrer bekanntesten Arie, „Casta Diva“ aus der Oper Norma (Bellini)

https://www.youtube.com/watch?v=voqXbcO_UnU

Maria Callas mit „Vissi d'arte “ aus der Oper Tosca (Puccini):

https://www.youtube.com/watch?v=_Zc5exCTscg