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Luísa Todi, mit dem Lorbeer bekrönt und die Leier des Orpheus in Händen, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (Paris 1785)

Adventskalender Paris 8.12.1779

Das Concert spirituel war die wichtigste Konzertreihe in Paris vor der französischen Revolution. Am 8. Dezember 1779, dem Fest der unbefleckten Empfängnis, brach das Publikum in Tränen aus, weil eine junge Portugiesin so schön sang: Luísa Todi. Eine Geschichte von Karl Böhmer

Advent mit Soprantönen, Paris, 8.12.1779

Geistlich war das Concert spirituel zu Paris nur noch dem Namen nach, doch unverrückbar blieb es an die Hochfeste des Kirchenjahrs gebunden. Allährlich im Dezember fand sich das Publikum zu drei festen Terminen im mächtigen Schloss der Tuilerien ein: am 8. Dezember zum Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens, an Heiligabend und am ersten Weihnachtstag. Was es dort zu hören bekamen, war ein buntes Gemisch aus Sinfonien, Solokonzerten und italienischen Opernarien. Es wurde garniert mit lateinischen Motetten und einem kurzen Oratorium in französischer Sprache, um bei aller weltlichen Unterhaltung doch noch dem geistlichen Anspruch Genüge zu tun und das Bedürfnis der Pariser nach großen Chören zu befriedigen. Hauptsächlich ging es darum, die größten Virtuos(inn)en der Welt zu bewundern, den schönsten Arien aus Italien zu lauschen und Komponisten kennen zu lernen, die aus halb Europa nach Paris strömten. Mozart stellte sich hier 1778 mit seiner „Pariser Sinfonie“ vor und ließ den Kastraten Gaspare Savoy eine seiner Arien singen. Im Jahr darauf war es eine junge Portugiesin, die Paris im Sturm eroberte und alle schönen Stimmen Italiens in den Schatten stellte: Luísa Todi.

Concert spirituel mit Sopranszene

Der Kritiker des Mercure de France konnte seine Begeisterung kaum in Worte fassen: „Die Opernszene war jene aus dem Alexander in Indien, deren Wiederholung in unseren Konzerten so oft schon verlangt wurde und die doch noch nie eine solche Emotion ausgelöst hat wie gestern. Das Entzücken reichte bis zur Verzückung, die Rührung bis zu Tränen; in allen Pausen der Singstimme verdoppelte sich der Applaus. Es ist wahr: Noch nie legte Madame Todi in ihren Gesang eine so tiefe Empfindung, und vielleicht hat man nie zuvor eine so vollkommene Übereinstimmung zwischen der Seele der Sängerin und der des Komponisten erlebt.“ Man schrieb den 8. Dezember 1779. Im Concert spirituel gab die portugiesische Sopranistin Luísa Todi ihr erstes Konzert nach einem halben Jahr Abwesenheit von Paris. Schon zwischen November und Mai hatte sie das Publikum in einen Taumel des Entzückens versetzt und dabei immer wieder jene Szene der verzweifelten Inderkönigin Cleofide gesungen, die Niccolò Piccinni 1774 für Neapel vertont hatte. An jenem 8. Dezember aber brachen bei den Parisern alle Dämme der Zurückhaltung: Todi führte die Verzweiflung der Heldin im stürmischen f-Moll auf einen Siedepunkt, der die Tuilerien erbeben ließ. Piccinni saß selbst im Publikum und traute seinen Ohren nicht. Als Gegenspieler Glucks war er in Paris zum Meister der großen französischen Oper avanciert, zum Idol der „Piccinisten“ gegen die „Gluckisten“. Doch trotz aller Grandeur seiner Pariser Opern war es diese eine Arie aus einer neapolitanischen Opera seria, die ganz Paris zu Tränen rührte. „Paris kann nicht genug von dieser Arie bekommen.“ So fasste es der besagte Kritiker kurz und knapp zusammen. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts galt sie im Gesangsunterricht des Pariser Conservatoire als Inbegriff der großen „Aria agitata“, des verzweifelten Gefühlsausbruchs einer Primadonna.

Luísa Todi zwischen Petersburg und Mainz

Luísa Todi war die Maria Callas ihrer Zeit: abgöttisch verehrt und erbittert bekämpft, eine einmalige Stimme aus Mezzosopran-Fülle und Sopran-Höhe, eine Gestaltung, die jeden Ton mit Emotion und perfektem Sostenuto auflud; außerdem eine Stilikone, Vertraute der Reichen und Mächtigen, aber im Gegensatz zu ihrer Nachfolgerin mehrfache Mutter. Ihre Schwangerschaften absolvierte sie zwischen den vielen Auftrittten quasi en passant, ohne jemals ihre fantastische Stimme zu verlieren. Bis heute wird sie in ihrer Heimat wie eine Heilige verehrt. Der „Alte Fritz“ lag ihr ebenso zu Füßen wie sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II., der die Todi in Sanssouci auf dem Cello begleitete. Kaiser Joseph II. verpflichtete sie 1781 für seine Weihnachtskonzerte in der Wiener Hofburg. Sein Bruder und Nachfolger Leopold II. nahm sich im Juli 1791 eine ganze Woche Zeit für Opernferien in Padua, um die Todi in ihrer Paraderolle als Dido zu sehen und zu hören. Katharina die Große beschenkte sie großzügig mit Juwelen und machte sie zur Vertrauten. Im Karneval 1781 gab sie in Turin ihr Italiendebüt und zündete als Gattin des geschlagenen Germanenfürsten Arminius ein so blendendes Koloraturenfeuerwerk, dass sie selbst den Kerzenschein im Teatro Regio in den Schatten stellte. 1790/91 versetzte sie die Venezianer in eine so fanatische Begeisterung, dass ganze Bände mit Gedichten auf sie gedruckt wurden und ein Buch über ihre Gesangs- und Darstellungskunst erschien. Dabei hatte sie von Beginn an stets darauf geachtet, auch im Konzertsaal aufzutreten, nicht nur auf der Opernbühne. Neben den großen Musikzentren verschmähte sie auch kleinere Residenzen nicht wie etwa Hannover, Bonn oder Karlsruhe. So kam sie im März 1789 auch nach Mainz, wo sie drei umjubelte Konzerte gab, rheinische Weine genoss und dem Kurfürsten aufwartete. Wieder waren die Kritiker sprachlos: „Mainz vom 9ten März. Madame Todi die Blume und Königin aller Sängerinnen kam verflossenen Sonntag den ersten März aus Berlin hier an ... Sie sang – ach Gott! wer mag’s beschreiben? ich hab so in meinem Leben nicht singen hören. Kurz Italien hat mit allen seinen Kastraten nichts dergleichen aufzuweisen. Ohne Prätension, ohne Caprice singt sie so viel man will, wahrlich ein schönes Muster für so viele unserer Kleinvirtuosinnen mit ihren Halbtalenten! Heute ist sie fort, und hat ihrem Engagement zu Folge die Reise nach Paris angetreten, der Himmel begleite und schütze sie für allen Unfällen!“

Bastion Paris

In jenem März 1789 reiste Todi zum letzten Mal nach Paris. Zwei Monate vor dem Sturm auf die Bastille gab sie dort ihr letztes Konzert – natürlich mit der berühmten Szene von Piccinni. Der Wunsch des Mainzer Musikkritikers, der Himmel möge sie schützen, ging nicht in Erfüllung: Schon 1791 machten sich in Venedig erste Anzeichen einer schweren Augenkrankheit bemerkbar. 1796 musste sie vor der Revolution ausweichen, als General Bonaparte die französische Italienarmee über die Alpen führte. Todi kehrte in ihre Heimat zurück und wähnte sich in Porto in Sicherheit. Doch 1809 griff Napoleon vom besetzten Spanien aus den westlichen Nachbarn an. Auf der Flucht über den Fluss Douro verlor sie ihre Juwelensammlung, in die sie all ihr Geld investiert hatte. Schon 1789 in Mainz schrieb man darüber: „An Geschmuk führt sie einen mehr als fürstl. Schaz mit sich.“ Als dieser Schatz in den Fluten des Flusses unterging, war ihre Altersvorsorge dahin. Zu allem Überfluss steckten sie die Franzosen ins Gefängnis, bis der Kommandant die große Todi erkannte und unter seinen persönlichen Schutz stellte. Die „nationale Sängerin“ Frankreichs als Gefangene der Franzosen? Undenkbar. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft lebte sie verarmt und erblindet in Lissabon, wo sie 1833 gestorben ist. Ihre glorreichen Tage in Paris waren ferne Vergangenheit. Im Concert spirituel hatte die chanteuse nationale ihren Ruf begründet. Paris hatte sich als erste Bastion ihrer europäischen Karriere erwiesen. Fünf Mal hatte sie an den Ufern der Seine gastiert und 59 Mal im Concert spirituel gesungen, mehr als jede andere Konkurrentin. Noch bei ihrem letzten Besuch 1789 schrieben die Zeitungen, sie singe besser als jemals, noch reifer und ausdrucksstärker als zuvor. Für andere Sängerinnen wurde es zum Problem, im Concert spirituel gegen die mächtigen Oratorien und Psalmen zu bestehen, die Sinfonien, Violin- und Flötenkonzerte. Nicht für die Todi, „die Blume und Königin aller Sängerinnen“.

Trompeten vor Jericho

Auch im Adventskonzert am 8. Dezember 1779 hatten die Programmplaner auf die bewährte Mischung gesetzt. Es begann mit einer Sinfonie des Mainzer Hofkaplans Franz Xaver Sterkel, dessen Orchesterwerke in Paris damals beliebter waren als die Sinfonien Haydns und Mozarts. Darauf folgten eine geistliche Solomotette des Franzosen Désaugiers und ein Harfenkonzert von Krumpholtz. Todis frenetisch gefeierte Piccinni-Arie bildete den Abschluss des ersten Teils. Im zweiten Teil umrahmten je ein Fagott- und ein Violinkonzert französischer Komponisten das eigentliche Hauptwerk des Programms: das französische Oratorium La destruction de Jéricho von Henri-Joseph Rigel. Diese zwanzigminütige Szene lies im besten Stil der französischen Oper die Mauern Jerichos einstürzen. Um die erregten Gemüter wieder zu beruhigen, hätte Todi keine bessere Arie wählen können als ein liebliches Rondò von Giovanni Paisiello. Mit ihren unvergleichlichen Soprantönen entließ sie die Pariser in die Adventszeit, voller Vorfreude auf ihre nächsten Auftritte an Heiligabend und am ersten Feiertag.

Zum Hören

Todis Turiner Bravourarie von Bernardo Ottani: „Se pietà tu senti al seno“ aus Arminio (Turin 1781)
Giovanna Seara, Sopran; Os Músicos do Tejo, Marcos Magalhães

https://www.youtube.com/watch?v=8dfD8GmkbAA

Piccinnis großartige Szene „Poro dunque morì - Se il ciel mi divide“ aus Alessandro nell’Indie in einer Aufnahme mit Cembalo-Begleitung, gesungen von der italienischen Mezzosopranistin Sara Mingardo:

https://www.youtube.com/watch?v=PoJC-oyVDJ0

Giovanni Paisiello: „Se cerca, se dice“ aus Olimpiade (Neapel 1786)
Mónika González, Sopran; Savaria Baroque Orchestra, Fabio Pirona (Leitung)

https://www.youtube.com/watch?v=ykLmh43alVM

Jean-Baptiste Kumpholz: Harfenkonzert B-Dur, op. 7 Nr. 5
Xavier de Maistre, Harfe; Les arts florissants, William Christie

https://www.youtube.com/watch?v=oqYIoSelAFw

Rigels kurzes französisches Oratorium La Destruction de Jéricho (Paris 1779) mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles und dem Orchester Les Folies Françaises unter Olivier Scheebeli:

https://www.youtube.com/watch?v=Ra0Pyc8wFnQ